VISION 2000: Als Psychotherapeut haben Sie vermutlich viel mit Menschen zu tun, die sich in einer Krise befinden. Was kennzeichnet menschliche Krisensituationen?
Bonelli: Es ist gut, folgendes klarzustellen: Ich sehe die Patienten in drei verschiedenen Situationen: bei endogenen psychischen Störungen, die durch den Gehirnstoffwechsel zustande kommen. Sie werden klassischer Weise nicht als Krisen bezeichnet …
Eine Krankheit also?
Bonelli: Ja, sie wird meist nicht durch eine Krise ausgelöst, der Patient kann die Krankheit dann jedoch krisenhaft erleben. Als zweite Gruppe von Patienten sehe ich jene, die eine neurotische Störung aufweisen. Das sind Menschen, die um sich selber kreisen, Angst um sich selber haben, bei denen die Welt bedingt durch die Ängste eng wird … Auch das ist nicht unter Krise gemeint. Diese Gruppe erweist sich allerdings als relativ krisenanfällig.
Eigentlich geht es um die dritte Gruppe: Menschen, die normal leben und durch einen außergewöhnlichen Umstand, die Krise eben, in eine psychische Notsituation geraten, mit der sie nicht richtig umgehen können. Manchmal sind es Situationen, in denen es jedem schlecht gehen würde: ein tödlicher Unfall des Sohnes, der Verlust der Ehefrau nach langer Ehe, eine unverschuldete Scheidung, der Verlust des Arbeitsplatzes… Da geraten Menschen in die Krise, weil sie Bindungen haben, die zerbrechen – eben weil diese Welt nicht perfekt und der Mensch verletzlich ist.
Was kennzeichnet Situationen, die Krisen auslösen? Sind Menschen da mit Umständen konfrontiert, die sie mit eigenen Möglichkeiten nicht mehr handhaben können?
Bonelli: Es sind Situationen, in denen man zumindest im ersten Moment überfordert ist. Da steht dann der Alltag still. Man sagt sich: Das, was mich normalerweise bewegt, ist jetzt egal, weil mein Kind bei diesem Unfall ums Leben gekommen ist, weil meine Diagnose Krebs lautet. Man erlebt sich als ohnmächtig, ist ausgeliefert. Man merkt, wie sehr man ein Mensch ist, der nicht alles im Griff hat. Nun gibt es Menschen, die krisenanfälliger, und solche, die stabiler sind.
Unter welchen Voraussetzungen ist jemand anfälliger für Krisen?
Bonelli: Es gibt in der modernen Psychologie einen Ausdruck für die Stabilität in der Krise: Resilienz. Der Begriff kommt aus der Physik und beschreibt die Fähigkeit eines Systems, bei Störungen wieder zurückzupendeln. In der Psychologie beschreibt man damit jemanden, der eine dickere Haut hat, der mehr aushält. Auf diesem Sektor wurde in den letzten 10 Jahren relativ viel geforscht.
Und was macht einen Menschen stabil?
Bonelli: Dicke Haut bedeutet, dass man die Dinge nicht so an sich heranlässt. Manche Sachen können einem aber auch deswegen nicht so nahe gehen, weil man die Relativität der Dinge kennt. Millionäre werden wohl im allgemeinen einen Verlust von 20.000 Euro halbwegs locker wegstecken. Allerdings hat sich ein deutscher Milliardär vor ein paar Jahren das Leben genommen, weil er ein paar Millionen verloren hatte. Da merkt man: Es geht auch um die Frage der Wertehierarchie. Was ist wirklich wichtig?
Kann die Resilienz-Forschung dazu etwas sagen?
Bonelli: Ja, die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Religiosität ein Faktor ist, der Stabilität verleiht. Durch den Glauben wird dem Menschen klar, dass nicht alles von ihm selbst abhängt und dass man nicht alles im Griff hat. Letzteres ist aber die Ideologie des Zeitgeistes: Alles sei machbar. Leute, die dieser Sichtweise verhaftet sind, kippen sehr leicht aus dem Gleichgewicht. Wir kennen 19-jährige Burschen, die einen Selbstmordversuch unternehmen, nur weil das Auto einen Totalschaden hat. Das Auto gehört dann zum eigenen Selbstverständnis. Es handelt sich da um Menschen, die alles auf eine Karte – und zwar die falsche – setzen.
Weiters gibt es viel Forschung über Verbitterung. Sie tritt bei Menschen auf, die zu leicht kränkbar sind. Kränkung kann aber auch dort auftreten, wo man vertraut, sich aus Liebe hingegeben hat. Michael Linden, ein Berliner Psychiater, berichtet ein eindrucksvolles Beispiel für missbrauchtes Vertrauen: Eine Frau heiratet einen jungen Mann, arbeitet, damit er studieren kann und verzichtet auf ihre Karriere. Nach einigen Jahren verlässt er seine Frau, um mit einer jüngeren zu leben. Da ist Kränkung ganz verständlich, in keiner Weise narzisstisch. Klar, dass so ein Vertrauensbruch zur Krise führt. Oft jedoch ist die narzisstische Kränkung Ursache einer Verbitterung, das chronische Fremdbeschuldigen.
Was ist darunter zu verstehen?
Bonelli: Für Narzissten muss alles genauso laufen, wie sie sich das vorstellen. Geschieht das nicht, wird das als persönliche Beleidigung empfunden. Und den anderen die Schuld gegeben. Narzissten bauen ein Bild von sich selbst auf, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Sie sind kränkbar, wenn man auf diese Differenz hinweist. Der Narzisst erwartet von der Umwelt, dass sie das Bild akzeptiert, das er sich von sich selbst macht. Obwohl er selbstbewusst auftritt, hat er ein brüchiges Selbstwertgefühl – wenig Resilienz. Stellt man ihn in Frage, wird er aggressiv, weil er im Grunde unsicher ist. Stabil sind Leute, die in sich ruhen, sich selbst richtig einschätzen. Das erfordert Demut. Und es bedeutet, dass man sich als Geschöpf, in der Hand eines Schöpfers weiß. Dann versteht man leichter, dass der Weg auch bei Krisen weiterführt. Psychologisch gesehen, ist das die Botschaft von Religion: Gott weiß schon, was Er tut. Das hilft, Krisen zu bewältigen.
Was hilft noch bei der Krisenbewältigung?
Bonelli: Die Chance einer Krise besteht darin, dass man die gewohnten Bahnen verlässt. Das kann ja ein enormer Vorteil sein. Ich habe viele Leute erlebt, die sich menschlich „bekehrt“ haben – ich meine das jetzt gar nicht religiös: Sie haben aufgehört, sich selbst zu verwirklichen, Egoisten zu sein, nur an sich zu denken, weil sie lebenswertere Prioritäten entdeckt haben. Ich denke an einen Mann, der jahrelang Pornographie konsumiert und seine Frau schlecht behandelt hat. Er wurde am Arbeitsplatz ertappt. Wahrlich eine Krise – weil „urpeinlich“. Diese Krise hat ihn den Irrweg erkennen lassen und den Weg zu seiner Frau neu eröffnet.
Krise also als Chance?
Bonelli: Ja. Ich glaube, wir Menschen brauchen Krisen. Sie eröffnen auch die Sicht für mehr Dankbarkeit. In der Krise erkennt man besser, was man alles noch hat. Vieles nimmt man ja als selbstverständlich: zwei Arme und zwei Beine sind solange selbstverständlich, bis man ein Glied verliert. Gleiches gilt für Gesundheit, Eltern, ein gutes Beziehungssystem … Vielfach versteht man erst in der Krise, was man hat.
Weiters lehrt die Krise Demut: Man erkennt, dass man nicht alles in der Hand hat, dass man in gewisser Hinsicht ausgeliefert ist – dem Schicksal oder einem höheren Wesen. Man kann sich neu als Geschöpf mit seiner Endlichkeit entdecken. In der Psychotherapie eröffnet die Krise große Möglichkeiten. Viele beginnen neu über wesentliche Fragen nachzudenken. Lernen erst dann, empathisch zu sein. Es ist eigentlich erstaunlich, wie wenig viele Menschen reflektieren, wenn sie nicht in der Krise sind.
Sehen Sie Gründe für diesen Mangel an Nachdenklichkeit?
Bonelli: Stetiger Erfolg ist einer: Er birgt die Gefahr, den Menschen zu verblöden. Mit der Zeit findet er dann alles an sich toll, super. Den wirklich erfolgreichen Menschen bleibt fast gar nichts anderes übrig, als narzisstisch zu werden. Sie bekommen von überallher positive Rückmeldungen und beginnen, sich zu überschätzen. Eine Krise kann da heilsam sein. Sie bringt den Menschen wieder auf den Boden.
Heute kann man sich gegen alles versichern. Dadurch entsteht ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Spielt dieses in das Thema Krise hinein?
Bonelli: Ich finde es psychologisch interessant, wie viele Menschen einfach übersehen, dass man sich gegen die wirklich wesentlichen Bedrohungen nicht versichern kann. Bei einer Scheidung wird die Versicherung niemals die Ehe retten können. Ein Kind, das ums Leben kommt, eine Freundschaft, die in Brüche geht – das sind Verluste, die man nicht versichern kann. Die Suche nach Scheinsicherheit hat etwas Zwanghaftes an sich. Der Neurotiker ist einer, der immer alles unter Kontrolle haben muss. Deswegen ist der Zwangsneurotiker auch jemand, der durch Krisen stark erschüttert wird. Wer aber weiß, dass alles in Gottes Hand ist und dass er morgen alles verlieren kann – das lesen wir ja in der Heiligen Schrift –, tut sich sicher leichter, wenn er in Krisen gerät.
Ist das verlorene Wissen um die Existenz Gottes nicht der Grundirrtum schlechthin, an dem die Menschen heute leiden – und der sie so krisenanfällig macht?
Bonelli: Das stimmt. Dazu ein gutes Beispiel aus meiner Praxis: Eine 40-jährige Frau ist massiv in der Krise. Ihr Lebensgefährte hat sie verlassen. 20 Jahre hatten sie in einer offenen, wilden Ehe, in der alles möglich war, gelebt. Im Hintergrund stand die inhumane Ideologie der 68er. Wegen einer Jüngeren hatte sie der Lebensgefährte verlassen. Sie war verzweifelt. Als ich sie darauf hinwies, dass sie sich eigentlich ausgemacht hatten, keine Bindungen einzugehen, wurde ihr schmerzhaft bewusst: „Ja, da bin ich einem großen Irrtum erlegen.“ Sie wurde mit der Realität konfrontiert, dass sich der Mensch seinem Wesen entsprechend lebenslange Treue wünscht – auch wenn er noch so liberal ist. Erschreckt hat sie entdeckt, dass sie tief im Inneren ja „konservative“ Wertvorstellungen hatte. Ihre Lebensideologie hatte sich als Irrtum erwiesen. Dann geschah folgendes: Ohne dass ich sie dazu gedrängt hätte, hat sie durch alle Verzweiflung hindurch ihren Glauben aus der Kindheit wieder gefunden. In der Krise merkt man eben, dass das heutige Ideal von jung, schön und reich nicht tragfähig ist. Wer an diesen Vorstellungen hängt, kommt in echte Krisen.
Ideologien also als Produzenten von Lebenskrisen?
Bonelli: Man muss zur Kenntnis nehmen: Es gibt anthropologische Wahrheiten über den Menschen. Dazu gehört, dass Mann und Frau darauf ausgerichtet sind, miteinander durch´s Leben zu gehen. Eine weitere Konstante ist das Schamgefühl. Ein Beispiel: Eine junge Frau wird gelähmt, im Rollstuhl in das Krankenhaus eingeliefert, in dem ich gearbeitet habe. Sie ist 17. Es stellt sich heraus, dass ihre Eltern von der 68er-Ideologie geprägt waren. Sie verlangten von der Tochter, dass sie in der Wohnung und im Garten nackt zu sein habe. Die Eltern drängten darauf, dass die Tochter Sex haben sollte, beim Ausgehen wurden ihr Kondome aufgedrängt. Nur wenn sie krank war, durfte sie sich anziehen. Sie wurde also immer öfter krank – und war schließlich gelähmt, eine psychogene Lähmung. Innerhalb von 3 Wochen konnte sie dann bei uns auch wieder gehen. Die Schamgrenze zu überschreiten, ist nämlich ebenfalls so ein Verstoß gegen die Wahrheit des Menschen.
Das Interview wurde im christlichen Monatsmagazin VISION 2000 veröffentlicht.