Tages Anzeiger: Viele Atheisten scheinen besonders empfindlich gegenüber Glaubensbekundungen zu sein und lassen sich schon durch ein Jesus-Plakat aus der Ruhe bringen.

Bonelli: Ja, da ist schon was Wahres dran. Obwohl man klarstellen muss, dass nicht jede Religionskritik psychologisch auffällig ist. Vieles davon ist schlüssig und auch für Gläubige hilfreich. Aber daneben findet man, wie Sie es ansprechen, immer häufiger eine irrationale, unkontrollierte Affektivität, die im Alltag Grundlage einer diffusen Religionsfeindlichkeit ist, die sich insbesondere gegen religiöse Wahrheitsansprüche und Verbindlichkeiten richtet.

Woher kommt diese Ablehnung?

Bonelli: Für die psychologische Untersuchung dieser Ablehnung können wir auf die Erkenntnisse von Sigmund Freud zurückgreifen: Narzisstisch kränkbar ist, wessen idealisiertes Selbstbild sich signifikant von der Realität entfernt hat. Der Narzisst lebt deswegen mit einem überzogenen, aber brüchigen Selbstwertgefühl. Jeder Hinweis auf die Wirklichkeit wird als bedrohlich erlebt; die schmerzhafte Wahrheit über sich selbst wird ins Unterbewusstsein verdrängt. Die Angst besteht darin, dass der Kränker recht haben und das konstruierte Selbstbild an der Realität zerbrechen könnte. Deswegen muss das Trugbild mit Aggression verteidigt werden. Religion stellt das narzisstische Weltbild des aggressiven Atheisten infrage.

Atheisten könnten sich doch entspannt aus den Glaubenskriegen heraushalten, die die übrigen Religionen untereinander ausfechten. Die vielen Kommentare auf unsere bisherige Atheismus-Serie zeigen etwas anderes.

Bonelli: Na ja, Atheismus ist ja auch eine Form von Glauben. Sie glauben auch ohne letzte Beweise und haben einen Wahrheitsanspruch.

Wodurch fühlen sich die Atheisten denn bedroht?

Bonelli: Aus meiner Sicht erscheint es heute angebracht, drei narzisstische Kränkungen des modernen und postmodernen Menschen zu postulieren. Die erste besteht darin, dass Gott nach wie vor nicht tot ist, obwohl Friedrich Nietzsche vor 150 Jahren dessen Ableben diagnostizierte. Nietzsche zum Trotz blühen die Religionen weltweit. In die Abwehr der schmerzhaften Realität, dass jedem Menschen eine natürliche Religiosität innewohnt, die Victor Frankl in seinem Buch «Der unbewusste Gott» beschrieben hat, wird viel Kraft investiert. Diese Abwehrkräfte können als antireligiöse Affekte und Handlungen wahrgenommen werden.

Noch viel schmerzhafter, weil bedrohlicher, wird aber als zweite Kränkung die moralische Instanz erlebt, die den Glaubensgemeinschaften innewohnt. Die heute gehandelten alternativen Ethikangebote sind ebenso farblos wie inhaltsleer, und damit beliebig, verbiegbar und schmerzfrei. Dafür steht ein wahrhafter Gottesglaube nicht zur Verfügung. Die monotheistischen Religionen degradieren den selbst zu Gott gewordenen modernen Menschen zum Geschöpf und nehmen ihn mit unmanipulierbaren Normen in die Pflicht. Damit decken sie seine verdrängte Schuld auf, weil sie mit Geboten den Finger in seine Wunde legen. Es kränkt ihn, nicht unfehlbar zu sein und sich verantworten zu müssen.

Für die dritten Kränkung des antireligiösen Menschen hilft ein Bild aus der innerfamiliären Psychodynamik: die eifersüchtige Aggression manches Pubertierenden auf jüngere Geschwister, die sich deswegen notgedrungen mit den Eltern verbündet haben. Denn der ambivalente Halbwüchsige sehnt sich nach der elterlichen Liebe, die er ausschlägt. Dem analog empfindet der Antireligiöse Neid und Eifersucht darüber, dass der Gläubige bei Gott Liebe, Sicherheit und Geborgenheit findet, und er selbst sich einsam durch die graue und grausame Welt schlagen muss. Die Kränkung besteht darin, gottlos zu sein, obwohl man sich unbewusst nach Transzendenz sehnt. Kain hat aus diesem Grund Abel erschlagen.

Religionskritik scheint gerade in zu sein. Es scheint cool zu sein, sich Atheist zu nennen oder betont öffentlich aus der Kirche auszutreten. Warum?

Bonelli: Na ja, nicht jeder, der aus der Kirche austritt, ist gleich Atheist, da muss man ein bisschen vorsichtig sein. Aber ich glaube, es war zu keiner Zeit zeitgeistig in, sich einem Gott hinzugeben. In meinem Land Österreich sind die Leute in der Nazizeit auch scharenweise aus der Kirche ausgetreten, das war damals mindestens so in wie heute. Der Mensch ringt immer und zu jeder Zeit damit, ob er sich demütig als Geschöpf in die Schöpfung einordnet oder selber Gott spielen möchte.

Sie sind Psychiater. Was hat Glaube und Religion mit der menschlichen Psyche zu tun?

Bonelli: Wir wissen heute aus vielen wissenschaftlichen Studien, dass Glaube dem Menschen guttut, weil er dem Menschen gemäss ist. Wie ich schon vorhin gesagt habe, stellen mehr und mehr Kollegen fest, dass jedem Menschen eine natürliche Religiosität innewohnt, so wie Empathie. Die kann man ausbauen und trainieren, die kann man auch verkümmern lassen – wie die Empathie. Beides – Mangel an Empathie und Religiosität – ist ein Defizit.

Weshalb wenden sich Menschen, die ihr Leben lang an nichts geglaubt haben, in Extremsituationen mit hohen psychischen Belastungen plötzlich zu Gott?

Bonelli: Eben genau weil eine gewisse Sensibilität für das Religiöse dem Menschen eingeschrieben ist. Das können sie verdrängen und mit einem ideologischen Überbau eine Zeitlang übertünchen – aber diese Alternativen haben so wenig Kraft, dass sie in den von Ihnen genannten Extremsituationen nicht ausreichen.

Das Interview wurde im Schweizer Tagesanzeiger veröffentlicht.

Markus Arch hat auf der Homepage der Giordano Bruno Stiftung einen Kommentar als Antwort veröffentlicht.

Auf diesen wiederum hat Victoria Fender mit einem Kommentar geantwortet, der auf kath.net veröffentlicht worden ist.