Religionskritik ist sinnvoll, schlägt aber immer häufiger in Aggression um. Zunehmend wird der Glaube als Störung empfunden, die es abzuwehren gilt

von Raphael M. Bonelli

Christen wie Muslime sehen sich heute einer wachsenden Feindseligkeit gegenüber. Sie werden verlacht, in ihren Rechten eingeschränkt, mitunter auch körperlich bedrängt. Natürlich ist Religionskritik an sich nicht grundsätzlich psychologisch auffällig. Sehr vieles davon ist schlüssig und auch für Gläubige hilfreich. Aber daneben findet man immer häufiger eine irrationale, unkontrollierte Affektivität, die sich insbesondere gegen religiöse Wahrheitsansprüche und Verbindlichkeiten richtet. Das Religiöse stört, und wer sich darauf ernsthaft einlässt, muss zuweilen mit Diskriminierung rechnen.

Für die psychologische Untersuchung dieser latenten oder offenen Aggression können wir auf die Erkenntnisse Sigmund Freuds zurückgreifen: Narzisstisch kränkbar ist, wessen idealisiertes Selbstbild sich signifikant von der Realität entfernt hat. Der Narzisst lebt mit einem überzogenen, aber brüchigen Selbstwertgefühl. Jeder Hinweis auf die Wirklichkeit wird als bedrohlich erlebt; die schmerzhafte Wahrheit wird ins Unterbewusstsein verdrängt. Die Angst besteht darin, dass der Kränker Recht haben und das konstruierte Selbstbild an der Realität zerbrechen könnte. Deswegen muss das Trugbild aggressiv verteidigt werden.

Was aber stellt den antireligiösen Menschen so in Frage, dass er eine irrationale Aggression als Abwehr benötigt? Analog zu Freud erscheint es angebracht, die drei narzisstischen Kränkungen des modernen Menschen zu postulieren. Die erste Kränkung besteht darin, dass Gott nach wie vor nicht tot ist, obwohl Friedrich Nietzsche vor 150 Jahren dessen Ableben diagnostizierte. Nietzsche zum Trotz blühen die Religionen weltweit. In die Abwehr der schmerzhaften Realität, dass jedem Menschen eine natürliche Religiosität innewohnt, wird viel Kraft investiert. Diese Abwehrkräfte können als antireligiöse Affekte und Handlungen wahrgenommen werden.

Noch viel schmerzhafter, weil bedrohlicher, wird aber die moralische Instanz erlebt, die den Glaubensgemeinschaften innewohnt. Die heute gehandelten alternativen Ethikangebote sind farblos, inhaltsleer und damit beliebig, verbiegbar und schmerzfrei. Für derlei Tauschoperationen steht ein wahrhafter Gottesglaube nicht zur Verfügung. Die monotheistischen Religionen degradieren den selbst zu Gott gewordenen modernen Menschen zum Geschöpf und nehmen ihn mit unmanipulierbaren Normen in die Pflicht. Damit decken sie seine verdrängte Schuld auf, weil sie mit Geboten den Finger in seine Wunde legen: Es kränkt ihn, nicht unfehlbar zu sein und sich verantworten zu müssen.

Für die dritte Kränkung des antireligiösen Menschen hilft ein Bild aus der innerfamiliären Psychodynamik: die eifersüchtige Aggression manches Pubertierenden auf jüngere Geschwister, die sich deswegen notgedrungen mit den Eltern verbündet haben. Denn der ambivalente Halbwüchsige sehnt sich nach der elterlichen Liebe, die er gleichwohl ausschlägt.

Analog empfindet der antireligiöse Mensch Neid und Eifersucht darüber, dass der Gläubige bei Gott Liebe, Sicherheit und Geborgenheit findet, während er selbst sich einsam durch die Welt schlägt. Die Kränkung besteht darin, stolz gottlos zu sein, obwohl man sich unbewusst auch nach Transzendenz sehnt. Kain hat deshalb Abel erschlagen.

Zusammengefasst: Dass die totgesagte Religion trotz alledem lebt, dass sie zweitens verdrängte Schuld aufdeckt und drittens ihren Gläubigen Geborgenheit schenkt, führt zu den drei narzisstischen Kränkungen des antireligiösen Menschen, die er mit irrationaler Aggression abzuwehren versucht.

Nietzsche zum Trotz blühen die Religionen weltweit. Das kränkt den antireligiösen Menschen.

Der Artikel wurde als Debattenbeitrag im Wirtschaftsmagazin FOCUS veröffentlicht.