Zur Psychologie der Unverbindlichkeit von Beziehungen

Teil 11 einer Serie zum Apostolischen Schreiben „Familiaris Consortio“

von Maria Schlachter und Raphael M. Bonelli

„Ja, ich will“ ist jener Satz, der Millionen von Fernsehzuschauern dazu bringen kann, den „schönsten Tag des Lebens“ ihnen wildfremder Menschen mit Tränen der Rührung in den Augen zu verfolgen. Besonders beliebt sind fesche junge Prinzen, die die Frau ihrer Träume im atemberaubend schönen weißen Kleid vor dem Traualtar zu ihrer Prinzessin machen.

Die Sehnsucht nach der ewigen großen Liebe, der Beziehung „bis dass der Tod uns scheidet“, ist ungebrochen hoch, die Realität vieler Menschen sieht aber anders aus. Bei Ehescheidungsraten jenseits der vierzig Prozent, etwa in Deutschland oder Österreich, ziehen es viele Paare vor, erst gar nicht zu heiraten und ohne eine Form von öffentlich anerkanntem institutionalisiertem Band – nach Familiaris Consortio in einer „freien Verbindung“ – zusammenzuleben, gelegentlich durchaus auch über einen sehr langen Zeitraum.

Häufig liegt einer solchen Lebensform eine fehlende Bereitschaft zur Verbindlichkeit zugrunde. Viele sind aber auch der Auffassung, dass die Besiegelung ihrer Beziehung durch den öffentlichen Akt der Eheschließung ohnehin eine reine Formsache, „symbolisch“ und daher entbehrlich sei. Ist aber ein Dokument wie eine Heiratsurkunde oder ein Trauschein tatsächlich ein rein äußerliches Zeichen für die eigentlich maßgebliche Lebensrealität?

Der Beitrag der Psychologie ist hier zunächst ein analytischer, ein Versuch, auf den Ebenen der Wahrnehmung und Kommunikation einige zugrunde liegende Ideen und implizite Botschaften der Unverbindlichkeit sichtbar zu machen.

Da ist zunächst das Argument, dass eine Heiratsurkunde ja „nur ein Symbol“ sei. Damit ist implizit die Vorstellung verbunden, wonach Symbole verzichtbar wären und mit der Realität nur am Rand zu tun hätten – Luxus sozusagen. Fein, aber eigentlich überflüssig. Ist das tatsächlich so?

Nach den Forschungserkenntnissen der Entwicklungspsychologie jedenfalls nicht: Hier ist die Repräsentation der Welt in einem Symbolsystem, das über unmittelbare Sinneseindrücke und Erfahrungen hinausgeht, eine unabdingbare Voraussetzung für die kognitive Entwicklung des Menschen und setzt bereits im Kleinkindalter ein. Symbole sind demnach etwas spezifisch Menschliches und haben eine hohe Bedeutung: einerseits als analog, auch unterbewusst wirkende Zeichen und andererseits funktional als Begriffe, die potenziell Unsichtbares, Ungreifbares sinnlich wahrnehmbar und begreifbar machen. Als solche Begriffe bieten sie eine unverzichtbare Grundlage für Kommunikation, also für die Verständigung von Menschen über gemeinsam erlebte Realität.

„Man kann nicht nicht kommunizieren“

Wie aber steht es mit der Symbolik, wenn ein Zeichen eben nicht vorhanden ist? Was vermittelt das fehlende verbindliche „Ja“ zueinander, das eine „freie Verbindung“ charakterisiert, den beteiligten Personen?

„Man kann nicht nicht kommunizieren“, stellt Paul Watzlawick, einer der scharfsinnigsten Kommunikationspsychologen des 20. Jahrhunderts, lapidar fest und meint damit, dass sowohl Handeln als auch Nichthandeln, Worte oder Schweigen stets Mitteilungscharakter haben. Sie beeinflussen andere, und diese anderen können ihrerseits nicht nicht auf diese Kommunikationen reagieren. Sich nicht festzulegen, nicht bereit zu sein, verbindlich vor anderen zueinander Ja zu sagen, ist demnach ebenfalls eine Form von Kommunikation, die eine Reaktion auslöst. Neben der Mitteilung eines Sachverhalts schwingt in der Kommunikation immer auch mit, was der Sender über sich selbst aussagt, wie er seine Beziehung zum Empfänger interpretiert und was er erreichen will. Welche Botschaft wird nun mit dem Nein zur Verbindlichkeit einer Beziehung von den Partnern über sich selbst und bezüglich der Definition ihrer Beziehung kommuniziert?

Nützen wir die Anschaulichkeit der Symbolik und vergleichen wir die Beziehung zwischen zwei Menschen mit einem jener zweispurigen Tretfahrzeuge, die man an manchen Orten ausleihen kann, um damit gemütlich durch die Landschaft zu kurven. Auf den ersten Blick würden sich die Fahrzeuge der „verbindlichen“ und der „unverbindlichen“ Beziehung in unserem Vergleich nicht unterscheiden, bei genauerer Betrachtung gibt es aber einen fundamentalen Unterschied: Der Rahmen des „verbindlichen“ Fahrzeugs ist verschweißt, des „unverbindlichen“ aber verschraubt. Beim Schweißen verschmelzen die Teile miteinander und bilden dadurch eine sehr stabile Konstruktion, geben aber etwas von ihrer Substanz unwiederbringlich preis. Schrauben hingegen können sich lockern, etwa bei Belastung. Sie können auch ganz leicht geöffnet und entfernt werden. Die Einzelteile werden also nur äußerlich zusammengehalten und bleiben daher stets autonom.

Was die Ebene der Beziehungsdefinition betrifft, sagen die nach diesem Bild „verschraubten“ Partner einer „freien Verbindung“ demnach zueinander „Ja, aber“. Dieses „aber“ multipliziert jedoch nach den Erkenntnissen der Kommunikationspsychologie die vorhergehende Aussage beim Adressaten gleichsam mit Null, verkehrt sie also in ihr Gegenteil. Die Botschaft ist daher inkonsistent und widersprüchlich. Auf das „Ja“ des Partners ist kein Verlass, weil es jederzeit zurückgenommen werden kann. Was wie eine stabile Verbindung scheint, entpuppt sich somit bei genauerem Hinsehen als fragile Konstruktion mit eingebauter Sollbruchstelle. Dadurch birgt jede Belastung des „Fahrzeugs“ ein größeres Risiko als beim verschweißten Rahmen der Verbindlichkeit.

Was kommunizieren nun die Beziehungspartner einer „freien Verbindung“ über sich selbst, wenn sie sich – nach unserem Bild – lediglich miteinander „verschrauben“? Maßgeblich ist hier offenbar die Autonomie, der hohe Stellenwert der Unabhängigkeit, für den eine zu fixe Bindung an einen anderen der eigenen „Beweglichkeit“ hinderlich ist. Wenn es die Partner irgendwann in verschiedene Richtungen zieht – sie sich auseinanderentwickeln, wie es dann heißt –, ist eine Trennung somit wesentlich einfacher. Daher schwingt bei der Unverbindlichkeit die Möglichkeit des Scheiterns schon immer mit. Vorsorge für die Trennung von Anfang an sozusagen. Diese Botschaft trägt den Keim des Misstrauens in sich und impliziert den Vorrang der Autonomie über die Beziehung.

Diese Bedeutung der Autonomie und Unabhängigkeit des Einzelnen ist Ausdruck eines Zeitgeistes, der sich nicht verbindlich festlegt, weil er ständig aus einer scheinbar unbegrenzten Anzahl von Möglichkeiten wählen kann – und scheinbar auch muss –, was der eigenen Befindlichkeit und der optimalen Selbstverwirklichung am besten dient. Leben bedeutet nach dem deutschen Psychologen und Herausgeber einer populären Zeitschrift für Psychologie, Heiko Ernst, für immer mehr Menschen, ständig „auf dem Sprung“ zu sein. Mobilität ist daher nach seiner Analyse eine erforderliche „Tugend“ des postmodernen Menschen in Bezug auf alle Lebensbereiche. In Beziehungen führt sie dazu, dass Bindungen an einen Partner oder die Familie von vornherein nicht als lebenslang begriffen, sondern abhängig von sich wandelnden individuellen Bedürfnissen gegebenenfalls immer wieder neu gestaltet werden. Die „freien Verbindungen“ erscheinen da fast als logische Folge dieses Selbstgefühls des unverbindlichen Menschen der Postmoderne.

„Auch in späteren Jahren sind Kinder auf klare Modelle und Grenzen angewiesen“

Das Familienleben solcher unverbindlichen Beziehungen ist laut Heiko Ernst daher anders als früher zunehmend elternzentriert, die Bedürfnisse der Kinder rangieren erst weiter hinten. Zahlreiche Studien auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie belegen aber, dass die konsistente Zuwendung und förderliche Interaktion mit einer zentralen Bezugsperson in den ersten Lebensjahren entscheidend für eine stabile kognitive und emotionale Entwicklung des Kindes ist. Aber auch in späteren Jahren sind Kinder in ihrer Persönlichkeitsreifung auf klare Modelle und Grenzen angewiesen, die in erster Linie innerhalb der Familie erfahren werden. Eltern, die primär mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt und in ihrer Partnerbeziehung nicht gefestigt sind, haben aber erfahrungsgemäß weniger freie Ressourcen, um ihren Kindern das Wachstumsklima zu gewährleisten, das sie für ihre kognitive und soziale Entwicklung brauchen.

Ein Heiratsdokument, das die „freien Verbindungen“ von einer Ehe formal unterscheidet, ist also tatsächlich eine Formsache, ein Symbol, und zwar mit einer klaren Botschaft. Diese Botschaft beinhaltet Werte und Tugenden, die gegen den herrschenden Zeitgeist gerichtet sind und in ihrer Bedeutung weit über die Beziehung zwischen zwei Menschen hinausgehen: Treue und Verbindlichkeit auch in schwierigen Zeiten, eigene Bedürfnisse zurückstellen zu können, haben sowohl für die Partner als auch für deren Kinder, aber auch für die Gesellschaft konkrete Auswirkungen. Es ist unter anderem Aufgabe von Psychologie und Psychotherapie, die oft unterschwelligen Botschaften einer Lebenssituation sichtbar zu machen – und vielleicht kommt es dann gelegentlich von einem „Ja, aber“ zum „Ja, ich will!“

Die Verfasserin ist Psychologin und Kunsthistorikerin sowie Vorstandsmitglied des Wiener „Instituts für Religiosität in Psychologie und Psychotherapie“ (RPP).

Der Verfasser ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, arbeitet als Psychotherapeut in Wien und leitet das von ihm gegründete RPP-Institut.

Der Artikel wurde in der deutschen Zeitung Die Tagespost veröffentlicht.