Tiroler Tageszeitung: Welchen Vorgang stellt Beten aus psychiatrischer Sicht dar?
Bonelli: Beten ist eine Form der transzendenten Kommunikation, Ausdruck persönlicher Religiosität. Als Psychiater beschäftigen wir uns zwar nicht mit der Frage, ob Gott existiert, aber Religiosität ist in der modernen Psychiatrie heute schon ein hilfreicher Faktor. Auch ist für uns nicht wichtig, wie genau der Patient betet, aber dass er betet, ist relevant. Im Gebet stellt sich der Mensch nämlich in eine transzendente Beziehung, bei der er Geschöpf ist und sein Ansprechpartner der Schöpfer. Damit gibt es noch ein höheres Korrektiv als die eigene Selbstgerechtigkeit. Dieser Gebetsvorgang ist normaler-weise eben kein narzisstisches Selbstgespräch sondern Austausch, ein sich Anvertrauen und Hören auf jemanden, der es gut mit einem meint. Die positiven Affekte Geborgenheit, Vertrauen und Intimität schwingen in der Regel mit. Als Therapeut habe ich den Eindruck, dass wahrhaft betende Menschen leichter therapierbar sind, weil sie es gelernt haben, zuzuhören und sich selbst zu hinterfragen.
Was sind die psychiatrischen Auswirkungen des Betens auf die menschliche Psyche?
Bonelli: Wir wissen, dass Religiosität der Psyche gut tut, etwa bei Depressionen, bei Suchterkrankungen oder bei Suizidideen. Religiosität ist dem Menschen gemäß und ihm eingeschrieben. Damit sage ich noch nichts über den Inhalt der Religiosität aus. Der ist von Mensch zu Mensch und von Kultur zu Kultur verschieden. Beten ist Ausdruck dieser persönlichen Religiosität, in der sich der Mensch von einem leblosen „Gottesbild“ zu einer lebendigen Gottesbeziehung weiterentwickelt.
Wie reagiert das menschliche Gehirn auf das Beten?
Bonelli: Die Hirnforschung steht nach wie vor am Anfang. Das heißt, es gibt durchaus ei-nige Ergebnisse, die interessant sind, aber noch kein gesichertes Wissen über diesen Bereich. Die rezente Studie von Andrew Newberg von der University of Pennsylvania, der buddhistische Mönche und katholische Nonnen untersucht hat, wäre da eines von vielen Beispielen. Rein methodisch muss man kritisch anfragen, ob das Beobachtete noch Gebet ist, wenn es für den Beobachter erzeugt wurde. Ich halte jedenfalls nichts vom Versuch, indirekte Gottesbeweise über die Hirnforschung postulieren zu wollen. Wie ich auch die aktuellen Diskussionen um ein „Gottes-Gen“ für verfrüht und überzogen halte.
Existiert im menschlichen Gehirn eine Art „Glaubenssystem“ – wenn ja, wo ist dieses lokalisiert und wie ist seine Funktionsweise?
Bonelli: Was wir heute messen können sind eher die Metaphänomene der Ge-hirndurchblutung und nicht die tatsächlichen neuronalen Vorgänge. Und selbst diese würde Metaphänomene bleiben. Glauben und Beten tut immer der ganze Mensch. Und der besteht nicht nur aus dem Gehirn, und schon gar nicht aus einem Hirnareal. Lieben tut man auch nicht mit dem linken Schläfenlappen, sondern als leib-seelische Einheit – als Mensch. Aber natürlich wird das Gehirn als wichtiges Organ der Kognition bei bewussten und unbewussten Vollzügen verwendet. Manche Studien nennen spezifische Hirnareale. Newberg zum Beispiel hat eine höhere Durchblutung im Stirn- und Schläfenlappen bzw. eine niedrigere im Scheitellappen festgestellt – aber für eine abschließende Aussage wäre es jetzt viel zu früh.
Laut einer Studie der Uni-versität von Arhus (Dänemark) aktivieren betende Menschen Teile des Gehirns, die normalerweise beim Führen eines Gespräches aktiviert werden. Ist das Beten ein Mo-nolog oder ein Dialog?
Bonelli: Beten ist Kommunikation. Natürlich gibt es Menschen, die ihr Selbstgespräch als Gebet einordnen, aber das Wesentliche beim Gebet ist das Hören auf einen Allmächtigen und nicht die narzisstische Selbstbeschau und Selbstbestätigung. Es passiert in einem gelungenen Gebet eben häufig, dass die eigene Enge überschritten werden kann, dass innere Blockaden überwunden werden, dass Lebenslügen fallen und die Maske der Selbsttäuschung abfällt. Das ist ein Hinweis, dass es eine Bewegung auf ein Du ist, und nicht das Braten im eigenen Saft.
Ist das Beten als Therapieform ein gangbarer Weg? Falls ja: In welchen Bereichen kann Beten als Therapie eingesetzt werden und welche Erfahrungen wurden damit gemacht?
Bonelli: Also, dass ich Beten verschreibe wie ein Medikament kommt bei mir nicht vor. Aber wenn der Patient diese Ressource mitbringt, kann das in der Psychotherapie eine hilfreiche Ergänzung sein. Denn hier spielt Selbsterkenntnis eine große Rolle – und die kann im Gebet passieren. Manchmal kommen meine Patienten deutlich gebessert in die nächste Stunde und berichten von Gebetserfahrungen, die es ihnen möglich gemacht haben, zu verzeihen, die Vergangenheit loszulassen, ihre Engstirnigkeit im Ehekonflikt zu erkennen, etc. Ich finde es gut, wenn sie beten, allerdings bete ich nicht mit ihnen in der Therapiestunde. Das vermischt für mich zuviel, ist eine unangebrachte Intimität und Grenzüberschreitung. Manchmal bete ich für sie – dann aber alleine.
Abschließend noch eine persönliche Frage: Was bedeutet Ihnen das Gebet persönlich und wo findet es in Ihrem Alltag Platz?
Bonelli: Für mich persön-lich sind alle drei Gebetsstufen – das mündliche Gebet, das betrachtende Gebet (Meditation) und das innere Gebet (Kontemplation) – wichtig. Ich halte mir diese Zeit immer aktiv frei – ich warte nicht darauf, dass ich irgendwann zufällig Zeit habe. Das hilft mir, meinen Arbeitsalltag zurückzudrängen, zu relativieren, einzugrenzen und nicht zum Workaholic zu werden. In den Therapien kann ich so fokussierter und sachlicher arbeiten.
Das Interview wurde in der Tiroler Tageszeitung veröffentlicht.