Als ich ein pubertärer, rebellischer Jugendlicher war, habe ich die Zehn Gebote als eine unerträgliche Einschränkung meiner ach so wichtigen Freiheit erlebt. Doch drei Jahrzehnte später, nach längerem hochinteressanten Arbeiten als Psychiater, bei dem ich Anteil nehmen darf an dem Schicksal so vieler Menschen, die sich mir anvertrauen, merke ich, was Gott wirklich mit ihnen gemeint hat: eine liebevolle Anleitung zum Glücklichwerden und eine behutsame Warnung vor Untiefen, die das Schiff des Lebens gefährden und sogar sinken lassen können. Die Zehn Gebote warnen nämlich vor dem Abgrund im Menschen selbst. Das hat nichts mit einer „Drohbotschaft“ zu tun, wie ich mir damals irrigerweise einreden ließ, sondern mit der überwältigenden Realität des Faktischen: Das Leben kann eben auch misslingen. Davon kann jeder Psychiater ein Lied singen.
Nehmen wir beispielsweise das 9. und 10. Gebot: Wie viele meiner Patienten machen sich durch ihren Neid ihr Leben zu Hölle! Neid ist übrigens unabhängig von persönlichem Reichtum oder Talent: der Neidhammel finden immer jemanden, dem er irgendetwas neiden kann. Oder das 8. Gebot: Notorische Lügner verheddern sich mehr und mehr in einer Scheinwelt, die sie isoliert und beziehungsunfähig macht. Wieviel leichter und schöner ist doch das Leben in der Klarheit der Wahrheit! Oder das 7. Gebot: Diebstahl macht wirklich nicht glücklich, und Diebesbeute und zu Unrecht angehäuftes Eigentum ist eine schwere Last für das Gewissen – auch wenn das mühsam verdrängt wird.
Nun zum 5. Gebot: Wie viele Frauen (und manchmal auch Männer) kommen nicht darüber hinweg, dass sie – vielleicht vor Jahrzehnten – wehrloses ungeborenes Leben getötet haben, das Gott ihnen anvertraut hat! Oder das 4. Gebot: Wie richtig fühlt es sich doch an, die Eltern zu ehren – im völligen Bewusstsein, dass sie nicht immer alles richtig gemacht haben, denn das Gebot lautet nicht: „Ehre Vater und Mutter nur dann, wenn sie wirklich total fehlerlos und perfekt waren“. Und die ersten drei Gebote: Wie gut tut es der Psyche, einen liebenden Schöpfergott über sich zu wissen, und nicht einsam und ungeliebt in einer sinnlosen Welt dahinzuvegetieren, zufällig durch Mutation und Selektion aus einem gleichgültigen Urknall entstanden.
Das erste Fazit eines Psychiaters: Jenseits der göttlichen Gebote gibt es allenfalls kurzfristige Befriedigung, aber sicher kein langfristiges Glück – weder in diesem Leben (dafür ist der Psychiater ja zuständig) noch im nächsten (das sich der nervenfachärztlichen Kompetenz entzieht). Das Gebot aber, das aus psychiatrischer Perspektive besonders fasziniert, ist das sechste. Hier, scheint es, hat der Mensch selbst die mitgelieferte Gebrauchsanweisung zur eigenen Leiblichkeit in einer überheblichen Naivität zerrissen. Bei keinem anderen Gebot ist ein Konsens unter Menschen so schwer zu finden: Zumindest theoretisch ist man sich einig, dass Lügen, Stehlen und Morden nicht wirklich super ist, aber die „Unkeuschheit“? Ist das nicht Schnee von gestern?
So langsam erscheint Licht am Ende des Tunnels der Unwissenheit und wir erkennen, dass doch nicht alles lustig ist, was sich zuerst so anfühlt. Täglich stranden an die Ufer der Nervenärzte tragische Opfer des Zeitgeistes, die sich mit Beachtung der kirchlichen Lehre sicherlich viele Probleme erspart hätten. Was die Kirche unaufgeregt als Sünde benennt, tut dem Menschen tatsächlich nicht gut: Ehebruch, Prostitution, Promiskuität, Pornographie und Masturbation sind vielleicht kurzfristig aufregend, führen aber definitiv nicht zum langfristigen Glück.
Unsere Kirche weist milde, ruhig und menschenfreundlich auf das hin, was dem Menschen entspricht. Ganz zum Unterschied vom drohend erhobenen Zeigefinger des Zeitgeistes, der zwischen theatralischer Empörung und moralinsaurer Entrüstung schwankt, wenn jemand etwa das Binnen-I vergisst oder sich gar mit der Meinung in die Öffentlichkeit wagt, dass es „normal“ sei, wenn einem Mann ausschließlich Frauen gefallen und umgekehrt. Wer gegen den politisch-korrekten Moralcodex verstößt, hat zwar vielleicht momentan fanatische Anfeindungen zu erdulden, aber sein Leben erleidet keinen inneren Schaden.
Der entsteht hingegen sehr wohl, wenn göttliche Gesetze übertreten werden, denn Gott geht es nicht um die rücksichtslose Durchsetzung einer Ideologie, sondern um das Glück des Menschen. Sogar Alice Schwarzer, wahrlich keine Kirchenlehrerin, spricht sich für die Zurückdrängung der öffentlichen Unkeuschheit aus, mit einer interessanten Argumentation: „Sollte die Reform des fatalen Prostitutionsgesetzes von 2002 jetzt scheitern, dann liegt das an euch: den linken Frauen, Ihr, die engagierten Frauen in der SPD und bei den Grünen oder Linken. […] Was immer ihr glaubt, bedenkt, wie allein schon die Möglichkeit, zu einer Prostituierten zu gehen, das Begehren und den Blick eines Mannes und eurer Söhne prägen kann. Ein Blick, der sich auch auf euch und eure Töchter richtet.“ Das erinnert uns überraschend stark an Worte, die wir aus einem anderen Kontext kennen: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ Der reine, ja der keusche Blick scheint im Zeitalter des allgegenwärtigen sexuellen Missbrauchs wieder „in“ zu werden. Wie erfreulich!
Die 68er, denen Alice Schwarzer da widerspricht, haben lange dafür gekämpft, dass die Gesellschaft das als „normal“ oder sogar wünschenswert erachtet, was die Bibel Sünde nennt. Und doch verheddert sich in einem Netz aus Lüge, Zwielichtigkeit, unwürdigem Versteckspiel und irreversiblem Vertrauensverlust, wer in diese Fälle tappt – und kommt immer schwerer heraus. Nicht selten ist das Scheitern der Ehe, des Berufs oder gar des Lebens die Folge. Psychiater sehen in diesen Phänomenen als „Sexsucht“ und „Pornosucht“ sogar eine krankhafte Dimension. Ja, die Weltgesundheitsorganisation der UNO vergibt in ihrer „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ diesem Fehlverhalten sogar eine Diagnosenummer zur Katalogisierung: F52.7.
Im Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ zeigt Milan Kundera nicht nur die Unmenschlichkeit des Kommunismus auf, sondern vor allem die Unmenschlichkeit der von den 68ern propagierten Promiskuität und ehelichen Untreue – das ist bei ihm die „Leichtigkeit des Seins“, die unerträglich wird. Trotz einer ideologischen (Schein-)Rechtfertigung wird die Protagonistin Teresa nicht mit der chronischen Untreue ihres Mannes Tomas fertig, schlittert immer tiefer in Depressionen und verzweifelt völlig. Ja, sie stürzt sich sogar in ein entwürdigendes Liebesabenteuer, weil sie glaubt, dass ihre Sehnsucht nach ehelicher Treue veraltet und verzopft ist. Erst ganz am Ende dieses traurigen Bestsellers finden Tomas und Teresa zu einem treuen Eheleben und die Beziehung – und übrigens auch das Buch – wird doch noch schön.
Das Wort „schön“ ist wohl die richtige Bezeichnung für das göttliche Geschenk der Sexualität, wenn sie dem Menschen gemäß gelebt wird – nach der göttlichen Gebrauchsanweisung, dem sechsten Gebot. „Keuschheit bedeutet die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und geistigen Sein“, lehrt uns die Kirche im großartigen Katechismus, den ich nur jedem empfehlen kann, der ihn noch nicht kennt (KKK 2337). Keuschheit macht frei und froh, Unkeuschheit logischerweise unfrei und unfroh. Es ist für einen Nichtmediziner kaum vorstellbar, wieviele Menschen im Bereich der Sexualität tun, was sie nicht tun wollen, erleben, was sie nicht erleben wollen und erleiden, was sie nicht erleiden wollen. Und es ist erschreckend, wie sehr Ideologen dieses Leiden nicht wahrhaben wollen, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Einem sexsüchtigen Patienten wurde kürzlich von einem Kollegen tatsächlich gesagt, er behandle ihn nicht, weil Pornographie toll sei. Dass der Patient fünf Stunden pro Tag (!) tat, was er nicht wollte und sehr darunter litt, war dem Fachmann egal. Gelungene Sexualität lässt eine Verbindung zwischen zwei Menschen zu, die sonst auf Erden nicht zu erreichen ist.
Gelungene Sexualität ist keusche Sexualität. Das zu Unrecht desavouierte Wort „Keuschheit“ bezeichnet einen Zustand der geglückten Einordnung der Sexualität ins persönliche Leben. Keuschheit ist also nicht das Fehlen von Sexualität, sondern ihr kräftiges Aufblühen im Garten, in dem sie gepflanzt ist: der Ehe. Sexualität ist eine Sprache der Liebe, die Unausdrückbares auszudrücken vermag. Dieses hohe, zarte und zerbrechliche Gut wird von der Kirche behutsam geschützt, indem es sogar auf die Ebene eines Sakramentes gerückt wird. Die Kirche lehrt uns nicht nur, „dass Mann und Frau füreinander geschaffen sind“ (KKK 1605), das ist ja heute schon revolutionär, sondern sogar, dass Gott den Menschen zur Liebe berufen hat: „Gott, der den Menschen aus Liebe erschaffen hat, hat ihn auch zur Liebe berufen, welche die angeborene, grundlegende Berufung jedes Menschen ist“ (KKK 1604). Gott selbst ist die Liebe und hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen: zur Liebe berufen. Das atheistisch geprägte viktorianische Zeitalter eines Charles Darwin, Karl Marx, Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche hatte im krassen Gegensatz zur kirchlichen Lehre echte Probleme mit der Leiblichkeit. Da sie keine Kenntnis der unsterblichen Seele mehr hatten, fielen sie in eine körperfeindliche Prüderie. Sexualität galt ihnen als tierisch-primitive Verhaltensweise, die kontrolliert werden und mit der sparsam umgegangen werden musste, da andernfalls die Karriere des Einzelnen oder gar die gesamte Wirtschaft leiden könnte. Naive „progressive“ Strömungen in der Kirche hatten diesen Unfug damals eifrig übernommen und etwa mit Rückenmarkschwund nach Masturbation gedroht. Nicht alles, was „modern“ ist und sich „wissenschaftlich“ gibt, ist deswegen auch schon wahr. Auch heute plappern manche kirchliche Kreise unkritisch „neue wissenschaftliche Erkenntnisse“ nach, die in Wahrheit leere Propagandaslogans einer beinharten Ideologie sind.
Als Psychiater kommt man nicht umhin festzustellen, dass bis heute manche Christen von dieser gottlosen Körperfeindlichkeit angesteckt wurden. Denn sie bewegen sich im Ehebett seltsam verzwickt und verzwackt, verklemmt und gehemmt: das ist wirklich nicht katholisch! „Katholiken müssen die besten Liebhaber sein“, sagte mir mein erster Lehrer und väterlicher Freund, der Priester, Psychiater und Philosoph Johannes B. Torello. Ich glaube, er hat recht: Sexualität ist ein göttliches Geschenk, das nur mit der pneumatisch inspirierten kirchlichen Gebrauchsanweisung zu einer ekstatischen Höhe erblühen kann. Die gottgewollte Vereinigung zweier Leiber ist ein in sich wunderschöner Akt, bei dem zwei unsterbliche Seelen einander unwiderruflich begegnen und sich gegenseitig prägen. Katholische Heilige wie Josemaría Escrivá sprechen sogar vom „Altar des Ehebettes“, und so kann man wohl die eheliche Vereinigung auch eine sexuelle Liturgie nennen. Das feiern, was Gott uns zu feiern aufgetragen hat: mit Gott und in Gott, in all seiner wunderbaren und unauslotbaren Schönheit, die die Sexualität in sich trägt. Daraus erwächst noch Größeres: die Mitarbeit an der Schöpferallmacht Gottes, die Fähigkeit, Geschöpfe mit unsterblichen Seelen zu zeugen.
Sexualerziehung kann demnach nicht damit enden, dass man den Kindern erklärt, wie die Organe ineinander passen, weil der Kontext dieses göttlichen Geschenks die Treue der echten Liebe ist. Aus dem Kontext gerissen ist Sexualität nur eine armselige Karikatur ihrer selbst. Sexualerziehung kann aber schon gar nicht daraus bestehen, ein neurotisch-ängstliches Vermeidungsverhalten einzutrainieren: Sexualität besteht nicht in einem Vermeiden von Schwangerschaften, nicht in einem „Nein“, sondern in einem unbedingten „Ja“. Ein Ja zum eigenen Leib, zum göttlichen Geschenk der Sexualität, zu seiner eigenen Fruchtbarkeit, zum Ehepartner und auch zum Kind als Folge der ehelichen Liebe.
Viele Menschen reiben sich an der Sexualmoral der Kirche, weil sie die menschliche Liebe nicht verstehen und damit Sexualität nicht richtig einordnen können. In seiner prophetischen Enzyklika „Humanae vitae“ schreibt Paul VI., dass die Kirche gar nicht die Urheberin des Sittengesetzes ist und gar nicht befugt, dieses zu verändern: „Sie bewahrt das Gesetz lediglich und legt es aus, ohne dabei jemals für erlaubt erklären zu können, was wegen seines innersten und unwandelbaren Gegensatzes zum wahren Gut des 04Menschen niemals erlaubt ist.“ Gott sei Dank wechselt die Kirche ihre Lehre nicht wie andere die Kleidung – je nachdem, wie die Mehrheit gerade tickt. Denn die Mehrheit irrt oft: Hitler, Abtreibungen und Euthanasie kamen jeweils durch Mehrheitsbeschlüsse zustande. Die Kirche ist ein unmanipulierbarer Fels in der Brandung und damit ein starker Orientierungspunkt für Suchende.
Der Artikel wurde in der deutschen Tagespost veröffentlicht.