VISION 2000: Kann der Psychotherapeut etwas mit dem Begriff Umkehr anfangen?

Bonelli: Auf´s erste nicht, weil es diesen Begriff in der Psychotherapie eigentlich nicht gibt. Der religiöse Begriff Umkehr besagt ja, daß man einen Weg gegangen ist, der falsch war, daß man dies erkennt und jetzt den Entschluß faßt, den richtigen Weg zu gehen. Das setzt also voraus, daß es so etwas wie „richtig“ und „falsch“ gibt. Beides sind aber Begriffe, die so in der klassischen Psychotherapie nicht vorkommen. Sie beurteilt nach einem anderen Kriterium. Sie fragt: Tut dir etwas gut? Oder nicht? Diese Fragestellung hat keinen transzendenten, allgemeingültigen Bezugspunkt, sondern sie bezieht sich nur auf die psychische Situation. Es geht der Psychotherapie in erster Linie um die Befindlichkeit des Klienten.

Tun dem Menschen nicht nur Verhaltensweisen gut, die in sich richtig und gut sind?

Bonelli: Ja, doch, aber der der Psychotherapeut weiß nicht, was richtig und gut ist. Man kann in der Psychotherapie darauf kommen, daß jemandem etwas nicht gutgetan hat und es daher angebracht erscheint, von nun an etwas anders zu machen. Aber die moralische Beurteilung: „Das habe ich falsch gemacht, es war eine Sünde und jetzt kehre ich zu dem zurück, wie es wirklich gehört…“ – das gibt es genau genommen in der Psychotherapie nicht. Das ist auch ihre größte Einschränkung.

Der Maßstab ist also rein subjektiv? Anders bei jedem einzelnen?

Bonelli: Richtig. Vom Konzept der Psychotherapie tut mir etwas anderes gut als zum Beispiel Ihnen. Deswegen darf der Psychotherapeut seinem Klienten auch nicht sagen, was ihm guttut. Das wäre ein Übergriff. Der Klient entdeckt mit Hilfe des Therapeuten selbst, was ihm guttut.

Es gibt allerdings einige Phänomene in der modernen Psychotherapie, die dem Begriff der Umkehr nahe kommen. So weiß man etwa, daß es in einem Konflikt verschiedene Perspektiven gibt. Daher kann man einen erstarrten Konflikt dadurch auflösen, daß man mit dem Betroffenen übt, die Sicht anderer am Konflikt Beteiligten ins Auge zu fassen, also die Perspektive zu wechseln. Etwa bei einem Ehekonflikt: Wie sieht das Ihre Frau, wie sehen es Ihre Kinder? Bei dieser Übung relativiert sich dann die eigene Position, die eigene verhedderte Denkweise. Da kommt man der Umkehr sehr nahe. Denn bei der Umkehr im religiösen Sinn merke ich plötzlich in einem Aha-Erlebnis, daß durch meine Handlung jemand anderer gelitten hat, daß ich also etwas Böses getan habe, von dem ich mich abwenden und für das ich um Vergebung bitten muß.

Können Sie den Unterschied noch einmal klarstellen, was die psychotherapeutische und die religiöse „Umkehr“ unterscheidet?

Bonelli: Die Umkehr im Sinn der Psychotherapie ist die Erkenntnis: Das hat mir nicht gutgetan. Das mach ich in Zukunft anders. Die religiöse Umkehr ist die Einsicht: Ich habe gegen Gottes Gebote verstoßen, was ich getan habe ist objektiv falsch. Ich habe anderen geschadet. Im Vertrauen darauf, daß dies richtig und gut ist, unterwerfe ich mich den Geboten Gottes.

Wenn es also keine objektiven Maßstäbe für gut gibt, kann die Psychotherapie dann etwas mit dem Begriff Schuld anfangen?

Bonelli: In der psychotherapeutischen Bewegung gibt es oft die Tendenz, die Schuld für das Leiden bei den anderen zu suchen und nicht bei sich selber. Bei Menschen, die lang in psychotherapeutischer Behandlung waren, erlebt man oft, daß sie sich in den Gedanken eingepuppt haben: Ich bin ein Opfer, die anderen haben mir Böses getan. Fragt man sie dann: Kann es nicht sein, daß auch sie etwas falsch gemacht haben? – so kann es zu einer echten Befreiung kommen.

Denn die Opferrolle, aus der man nicht herausfindet, erzeugt eine enorme Unfreiheit, denn niemand kann seine Geschichte ändern. Wenn einer aber entdeckt, daß er auch etwas zu seiner gegenwärtigen Notsituation beigetragen hat, erschließt er damit einen Handlungsspielraum für eine Veränderung. Und das wirkt befreiend.

Ein konkreter Fall?

Bonelli: Ein Klient hatte 10 Jahre lang Therapien gemacht. Dann kam er zu mir, sehen ob ich eine „neue“ Idee habe. Nach zwei Stunden sage ich ihm, er habe mir alle aufgezählt, die ihn traumatisiert haben, und sagte ihm: „Ich sehe sehr viel Unversöhnlichkeit in Ihrem Leben.

Könnte es nicht sein, daß sie dadurch mitverantwortlich sind für Ihr Unglück?“ Das war für ihn eine Offenbarung. Niemand hatte ihn das je gefragt. Es war der Auslöser dafür, daß er einen ganz neuen Weg eingeschlagen hat, indem er begonnen hat anderen zu verzeihen.

Als Psychotherapeut bin ich allerdings nicht zuständig, die Menschen direkt zu Gott zu führen. In der Psychotherapie geht es um die Selbsterkenntnis des Patienten. Aber man kann Fragen stellen, die Aha-Erlebnisse auslösen und mitunter zu einer Gotteserfahrung werden.

Ist das nicht fast schon Gewissenserforschung?

Bonelli: Nicht in dem Sinn, wie es die Kirche anbietet. Wer zur Beichte geht, tut dies auf dem Hintergrund des Wissens: Du wirst immer wieder schuldig. Aber es gibt die Möglichkeit, dafür Verzeihung geschenkt zu bekommen. Gäbe es keine Schuld, wäre die Beichte sinnlos. Das Bewußtsein jedoch, daß man selber schuldig werden kann, ist in vielen Köpfen nicht mehr vorhanden. Viele sind sehr sensibel dafür, daß man an ihnen schuldig wurde. Daß auch sie schuldig werden können, sehen sie nicht. Und damit verheddern sie sich in eine Art Gefangenschaft.

Die Verantwortung für eine Schuld auf sich zu nehmen, dann hingehen und sich entschuldigen – das ist eine großartige Befreiung, die allerdings ohne diese Einsicht nicht stattfinden kann. Für den psychisch gesunden Menschen ist es von großer Bedeutung, zur Umkehr fähig zu sein. Jeder geht notwendigerweise in Sackgassen.

Der Egoismus, die Ichhaftigkeit, ist eine typische Sackgasse. Der Psychotherapeut Fritz Künkel hat dies als eine der Ursachen für die Neurose beschrieben. Wer immer nur um sich kreist, kann den anderen und das Geschehen rund um sich nicht mehr richtig sehen. Weil jeder Mensch von dieser Gefahr bedroht ist, besteht fortgesetzt, auch psycho-dynamisch, die Notwendigkeit einer Korrektur.

Da könnte Psychotherapie helfen?

Bonelli: Ja, sie kann dieses Phänomen ins Bewußtsein heben, würde es aber nicht moralisch bewerten. Sie würde die ichhafte Weltsicht als ein Phänomen beschreiben, das einem nicht guttut. Künkel stellt den ichhaften, dem sachlichen Menschen gegenüber. Letzterer hat so viel Distanz von sich selber, daß er zu selbstlosen Handlungen fähig ist. Künkel bringt das Beispiel: Ein Mann führt eine alte Frau über die Straße. Der ichhafte Mensch denkt dann: „ICH habe geholfen, hoffentlich wurde ICH gesehen. Was bin ICH doch für ein guter Mensch…“ Der sachliche Mensch hingegen: „Die alte Frau wäre nicht allein hinübergekommen. Gott sei Dank wurde ihr geholfen.“ Und er beläßt es dabei. Daran wird deutlich: Gute Handlungen, die ichhaft begangen werden, neurotisieren.

Nun zum Begriffe Buße. Kann der Psychotherapeut damit etwas anfangen?

Bonelli: Psychodynamisch aber tut es dem Menschen einfach gut, wenn er, nachdem er schwere Schuld auf sich geladen hat (nach einer Abtreibung, einer schweren Verfehlung, ein arger Verrat), etwas zur Wiedergutmachung tun kann. Es vermittelt das Gefühl, sich reingewaschen zu haben. In dieser Haltung geht man ja auch zu dem, den man geschädigt hat, und bittet um Vergebung. Das ist ja etwas sehr Schönes und eigentlich Normales.

Es erfordert aber Courage …

Bonelli: Ja, denn man könnte ja ausweichen, wegschauen. Wer um Entschuldigung bittet, dem verzeiht eigentlich fast jeder.

Themenwechsel: Schuldgefühle. Gibt es da eine krankhafte Dimension?

Bonelli: Obwohl Schuld in der Psychotherapie negiert wurde, war dies bei Schuldgefühlen nie der Fall. Zwischen beidem besteht allerdings ein Zusammenhang. Es gibt meiner Ansicht nach pathologische und physiologische Schuldgefühle. Erstere sind entweder übertrieben oder bestehen überhaupt zu Unrecht. Die physiologischen hingegen sind die richtige Reaktion eines gesunden Gewissens auf eine böse Tat.

Allerdings wurden in der Psychotherapie lange Zeit alle Schuldgefühle als pathologisch eingestuft und damit Schuld negiert.

In welcher Form tritt diese krankhafte Art von Schuldgefühlen auf?

Bonelli: Es gibt die Skrupel: Menschen kommen nicht davon weg, daß sie nicht perfekt gehandelt haben. Und weiters: wenn jemand die Größe der Schuld massiv übertreibt. Dann geschieht es, daß jemand beichtet und meint, es sei ihm nicht vergeben. Wer nach einer Beichte noch einmal und noch einmal dieselbe Sünde beichtet, dann spricht man von Skrupeln. Gute Beichtväter merken das. Da kann dann eine Psychotherapie helfen.

Inwiefern?

Bonelli: Man kann aufarbeiten, welcher Mechanismus bewirkt, daß sich jemand so an eine Schuld hängt. Meist steckt Perfektionismus dahinter: Man kann sich den Mangel an Perfektion selbst nicht verzeihen. In der Beichte geht es nämlich nicht darum, daß man sich selbst durchschaut, sondern sie ist der Raum, in dem Gott die Sünden verzeiht. Daher ist Psychotherapie manchmal eine gute Hilfe für die Gewissenserforschung.
Manchmal hilft es einem Menschen, seine Handlungsmotive zu untersuchen in einem Raum, wo diese Motive nicht gleich moralisch beurteilt werden. Da kann der Therapeut helfen. Das gilt besonders bei Perfektionisten. Sie beurteilen sofort alles, halten aber keine schlechte Beurteilung aus. Und weil dies der Fall ist, blenden sie manches einfach aus. Alle anderen sehen, was falsch läuft, nur der Betroffene erkennt seine Motivationen nicht, weil er sich ja daran klammert, nie etwas falsch zu machen. Eine solche Konstellation kann man auflösen, indem man dem Patienten die entsprechenden Fragen stellt. Und dann kann ihm klar werden, was er lange verdrängt hat.

In welcher anderen Form kann der Umgang mit Schuld krankhaft sein?

Bonelli: Der Narzisst zum Beispiel ist überzeugt, nie etwas falsch zu machen. Er kreist selbstverliebt um sich und ist begeistert von allem, was er sagt und tut. In dieser Form des Selbstbetrugs leben wir mehr oder weniger alle – nur der Narzisst im pathologischen Ausmass.

Gibt es unter Christen auch so etwas wie einen psychisch belastenden Leistungsstreß?

Bonelli: Unter religiösen Menschen findet man häufig einen Hang zum Perfektionismus. Sie meinen, das Idealbild darstellen zu müssen. Johannes Torello hat das als neurotische Spiritualität bezeichnet. Wir haben zwar alle Christus als Ideal vor Augen, müssen alle von Ihm lernen, aber wir müssen damit leben, daß Er uns in jeder Hinsicht überragt. Unsere Aufgabe ist es, uns auf Ihn zuzubewegen. Wenn einer nicht aushält, daß er nicht vollkommen ist, daß er sündigt und daher beichten gehen muß, dann ist er ein Perfektionist – und da kommen echte Schwierigkeiten auf ihn zu. Da ist auch Stolz im Spiel.

Ist die Psychotherapie heute ein Ersatz für Beichte und Umkehr?

Bonelli: Wir kommen aus einer Zeit, in der die Kirche den Menschen Bezugspunkte zur Lebensgestaltung vermittelt hat. Heute leben viele Menschen ohne solche Orientierung außer der Selbstverwirklichung. Das läßt sich am besten an den Mann-Frau-Beziehungen illustrieren, wie ich an vielen Klienten feststelle. Früher war klar: Man heiratet und bleibt einander ein Leben lang treu. Ein klares Konzept, wenn auch schwierig im Leben umzusetzen. Heute muß man sich fragen: Wie kann ich meine Pachtwork-Family am besten leben und ist es ok, wenn ich eine Außenbeziehung habe? Das sind komplizierte Lebenskonstellationen, auf die man gar keine klare Antwort haben möchte. Aber wegen des Unbehagens, das man empfindet, sucht man doch eine.

Der vom Zeitgeist getriebene Durchschnittsmensch – also der Spießer – ist eigentlich sehr unfrei. Seine Bequemlichkeit, seine Denkmuster, seine Triebe, Wünsche und ichhaften Vorstellungen schränken seinen Handlungsspielraum ein. Wirklich frei ist nur der Heilige, weil Tugenden die persönliche Freiheit erhöhen. Der hat auch kein Problem mit der Selbsterkenntnis, gesündigt zu haben, ja ein großer Sünder zu sein, weil er sich letztlich eben von Gott geliebt weiß und seine Vergebung erfahren hat. Gottferne Menschen jedoch leben im Selbstbetrug und in der Illusion, sie seien im Grunde ganz in Ordnung, sie brauchten eigentlich keine Sündenvergebung.