Leben und Glaube: Raphael Bonelli, warum beschäftigen Sie sich mit Religiosität? Sie sind schließlich Psychiater!
Bonelli: Religiosität ist eine der Realitäten, die auf die Psyche wirken, so wie auch die Befindlichkeit oder die Sexualität. Mein Thema als Psychiater ist aber nicht, welche Religion Recht hat. Ich halte es für einen Missbrauch vom Psychiater, wenn er versucht, religiöse Vorstellungen seiner Patienten nach seinen Wertvorstellungen zu verändern. Das passiert oft genug – meistens, indem die Religion pathologisiert wird.
Was heisst das genau?
Bonelli: Spätestens mit Sigmund Freud kam die Religionsskepsis des technikgläubigen 19. Jahrhunderts in die Psychotherapie. Er hat die Religion als «kollektive Zwangsneurose» pathologisiert. Nur zögerlich können wir uns im 21. Jahrhundert von diesen Dogmen lösen. Dabei schaffen neueste Studien Klarheit, die die stabilisierende Wirkung der Religiosität auf die menschliche Psyche dokumentieren.
Sind religiöse Menschen denn glücklicher und werden seltener krank als andere?
Bonelli: Religion ist keine Medizin. Das heisst, wer religiös lebt, damit er glücklicher oder gesünder wird, wird das sicher nicht und sollte lieber joggen gehen. Religion ist aber letztlich eine transzendente Liebesbeziehung, und Liebe hat schon das Potenzial, glücklicher zu machen. Das Heilsame ist das sich Hinwenden zu etwas Höherem. Es liegt auch nahe, dass jemand mit einem geordneten Lebensstil weniger körperliche Krankheiten bekommt.
Ist der Mensch ein Wesen, das von Natur aus Religiosität zum Glücklichsein braucht?
Bonelli: In gewisser Weise hat jeder religiöse Anlagen, sagen wir mal einen Rezeptor für die Religion, eingebaut. Das meint auch der Philosoph Habermas, wenn er von sich sagt, er sei «religiös unmusikalisch ». Durch Üben kann man seine Musikalität fördern und bis zur Höchstleistung trainieren, aber man kann das Talent auch brach liegen lassen. Jede Kultur hat ihre Religiosität in einer Religion ausgedrückt und kultiviert. Ein Mensch ohne Transzendenz ist auf sich selbst zurückgeworfen – und das ist wenig, manchmal zu wenig.
Gibt es mehr psychische Erkrankungen, seit Religion im Alltag eine weniger wichtige Rolle spielt?
Bonelli: In der Tat nehmen die psychischen Krankheiten zu – aber mehr die Süchte und Neurosen. Die Depressionen bleiben eher gleich, die Selbstmorde haben sogar etwas abgenommen. Aber die indirekten sozialen Folgen verschwundener Volksfrömmigkeit kann man in den psychiatrischen Gesprächen wiederfinden: Haltlosigkeit, zerfallene Familien, egoistische Härte und Selbstverwirklichung auf Kosten der Angehörigen, Beziehungsunfähigkeit, Unverständnis der Treue und Heimatlosigkeit. All das hat direkte Auswirkungen auf die menschliche Befindlichkeit. Die Studien zeigen, dass Religiosität vor allem bei Suchtkrankheiten, Suizidalität und Depressionen unterstützend heilend sein kann. Ich denke, dass ein Mensch, dem die transzendente Dimension des Lebens fehlt, entsprechend weniger Halt in Krisensituationen hat und dann eher in Ersatzbefriedigungen (Suchtmittel) schlittert – oder ganz verzweifelt (Suizid). Aber es gibt auch Menschen, die in der Krankheit den Glauben verlieren. Glaube jedenfalls macht die Krise nicht lustiger, aber besser interpretierbar.
Sie sagen in Interviews, dass bei der Psychotherapie das Glücklichsein des Patienten im Vordergrund steht. Bei der Seelsorge ist es das Seelenheil. Wenn aber doch Religiosität glücklicher machen kann – warum dann so trennen?
Bonelli: Religion macht nicht immer glücklich. Ich trenne es strikt, weil viel Missbrauch entstehen kann, wenn der Psychiater Seelsorger spielt und seine persönlichen Wertvorstellungen aufdrängt. Es ist übrigens auch ein Unglück, wenn der Seelsorger Psychotherapeut spielen will. Hier sehe ich eine recht unglückliche Entwicklung in der Seelsorgeausbildung.
Was genau ist der Unterschied zwischen Seele und Psyche?
Bonelli: Psyche kommt aus dem Griechischen und heisst Seele. Aber meistens wird es für schnell veränderliche Phänomene der Befindlichkeit gebraucht. Die Seele im Gegensatz dazu ist der Sitz von Entscheidungen und damit von Gut und Böse. Man kann ein glücklicher Verbrecher oder ein unglücklicher Heiliger sein. Aber langfristig macht das gute Leben – das geglückte Leben – glücklich. Tugend besteht darin, dass man nicht immer gleich die Befriedigung haben muss. Triebverzicht nennt das Sigmund Freud.
Religiosität innerhalb von Psychotherapien wird als eine Manipulation angesehen. Ist nicht jede Therapie an sich schon eine Manipulation?
Bonelli: Es war ein Dogma der letzten Jahrzehnte, dass Therapie keine Manipulation sein darf. Und das halte ich auch für richtig. Aber, wie sie sagen, ganz wirkungslos soll Psychotherapie ja nicht sein. Wir Psychotherapeuten halten uns für einen Katalysator, der Prozesse beschleunigt und zur Selbsterkenntnis führt. Aber auch dieses Bild hinkt manchmal. Denn Psychotherapie gibt auch Denkanstösse und öffnet Türen. Ich achte darauf, dass ich in der Therapie die Wertvorstellungen des Patienten hochhalte, auch wenn es nicht die meinen sind. Das heisst nicht, dass man ein verbittertes Weltbild nicht durch ein bisschen Versöhnlichkeit ablindern kann.
Auf der einen Seite schützt Religion vor Suizid, auf der anderen führt ein fanatischer Glaube gerade zu Suizid und Gewalt.
Bonelli: Natürlich gibt es auch die pathologische Religiosität mit Sektenbildung, Abhängigkeiten, Fanatismus und Gewalt. Diese Menschen haben nicht zu viel Glauben, sondern missbrauchen den Glauben, ja pervertieren ihn. Das ist aber nicht eine Sache der Psychopathologie. Ich lehne die These ab, dass die Psychiatrie alle menschlichen Phänomene erklären kann.
Das Interview wurde in evangelischen Wochenmagazin Leben und Glauben veröffentlicht.