Positive Psychologie | Raphael M. Bonelli https://seite.bonelli.tv Vorträge, Diskussionen, Interviews Tue, 28 Jul 2020 12:38:55 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.16 Die Wiederentdeckung der Tugenden https://seite.bonelli.tv/die-wiederentdeckung-der-tugenden/ Fri, 16 Mar 2012 20:34:45 +0000 http://www.bonelli.tv/?p=403 VISION 2000: Fastenzeit – ein fortgesetzter Appell zur Änderung. Kann sich der Mensch ändern? Univ. Doz. Raphael Bonelli: Das ist in der Psychotherapie eine große Diskussion. Für einen religiösen Menschen erscheint das zwar seltsam. Im christlichen Weltbild ist ja schon vorweggenommen, dass der Mensch sich ändern kann. Im psychologischen Lehrsystem ist das bisher nicht so […]

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VISION 2000: Fastenzeit – ein fortgesetzter Appell zur Änderung. Kann sich der Mensch ändern?

Univ. Doz. Raphael Bonelli: Das ist in der Psychotherapie eine große Diskussion. Für einen religiösen Menschen erscheint das zwar seltsam. Im christlichen Weltbild ist ja schon vorweggenommen, dass der Mensch sich ändern kann. Im psychologischen Lehrsystem ist das bisher nicht so klar gewesen.

Inwiefern?

Bonelli: Sigmund Freud war philosophisch gesehen Materialist und der Meinung, der Mensch sei hundertprozentig determiniert. Diese Sichtweise hat in den 80er und 90er Jahren eine Renaissance erlebt. Die Diskussion darüber, ob der Mensch frei sei oder nicht, geht bis heute weiter. Es gibt also einen Strang der Wissenschaft, der behauptet, der Mensch sei biologisch determiniert. Andererseits war in den 70er Jahren die Vorstellung en vogue, der Mensch sei so von seiner Umwelt geprägt, dass er für sein Verhalten nicht wirklich verantwortlich gemacht werden kann. Grob gesprochen: Verbrecher sind nur mehr Ergebnis falscher Erziehung und ihres sozialen Umfeldes. Beide Ansätze sind wissenschaftlich gesehen interessant…

Das wundert mich jetzt aber…

Bonelli: Weil sie zum Teil wahr sind. Wir sind einerseits tatsächlich materiell determiniert. Unser Verhalten ist von unserem Gehirn mitbestimmt. An dieser Stelle ist wichtig, dass ich betone: Der Mensch ist auch frei. Abgesehen vom religiösen Glauben ist das ja eine menschliche Erfahrung, die man an sich selbst machen kann. Aber wir wissen auch, dass sich Menschen bei Störungen des Gehirnstoffwechsels plötzlich anders verhalten. Das gilt z. B. für manche Depressionen. Da braucht man dann oft Medikamente, weil die Stimmung viel mit dem Gehirn zu tun hat. Wer ein depressives Gehirn mitbekommen hat, wird unter Depressionen leiden. Große Heilige haben darunter gelitten. Das ist ein Kreuz, das es zu tragen gilt. Es wird leichter, wenn man es als solches annimmt. Selbstverständlich sind wir andererseits auch durch Erziehung und Umwelt geprägt. Ein banales Beispiel ist die Sprache. Sie prägt die Art zu denken. Wer Deutsch spricht, denkt anders als ein Spanier. Das kann ich beurteilen, weil ich Spanisch kann. Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur das Denken, sondern auch unser Fühlen, unsere Vorstellungen von Gut und Böse.

Dennoch gibt es dafür allgemein gültige Kriterien…

Bonelli: Klar, in jedem Menschen gibt es das natürliche Sittengesetz, das grundlegende Vorstellungen über Gut und Böse prägt. Dennoch bekommen wir durch das familiäre und soziale Umfeld wichtige Prägungen. Besonders zu nennen ist hier der Zeitgeist, die Medien, die „peers“, also die Gleichaltrigen. Wir stehen da heute unter starkem Druck zur Gleichschaltung.

So gesehen ist Änderung also ausgesprochen schwierig…

Bonelli: Aber es gibt sie. Dass sich der Mensch ändern kann, weil er frei ist, haben auch schon die „alten Griechen“ erkannt. Sie haben den Begriff der Tugenden geprägt…

Noch einmal: Geht es also um eine Freiheit jenseits der ebenfalls vorhandenen Prägungen?

Bonelli: Ja. Wir könnten nicht von Tugenden sprechen, wenn es nicht die Freiheit gäbe. Die Tugend setzt den Willen, einen Willensakt voraus. Tugend kann man als Leichtigkeit im Tun des Guten bezeichnen. Und diese Leichtigkeit erreicht man aufgrund des Einübens bestimmter Handlungen. Es geht darum, willentlich etwas zu tun, was einem spontan gegen den Strich geht. Ein Beispiel: Ich bin mit einer Situation konfrontiert, in der ich eigentlich lügen möchte. Aber ich weiß auch: Lügen ist schlecht und die Wahrheit zu sagen, bewährt sich auf lange Sicht. Also sage ich – trotz des Impulses, lügen zu wollen – die Wahrheit. Auch wenn das zunächst einen Nachteil bedeuten kann, werde ich durch den Willensakt doch immer stärker in meiner Haltung: Ich sage die Wahrheit. Und so werde ich zu einem Menschen, auf den man sich verlassen kann. So eine Haltung kann in der Erziehung gefördert worden sein, sie kann auch einen genetischen Hintergrund haben, aber im Wesentlichen hängt sie von meiner persönlichen Entscheidung ab.

In der Heiligen Schrift ist auch von Tugenden die Rede.

Bonelli: In den Weisheitsbüchern werden die Kardinaltugenden erwähnt. Auch Paulus spricht von ihnen und dann natürlich Thomas von Aquin. In der Psychologie blieb dieses Wissen jedoch lange unentdeckt, bis Martin Seligman, Professor für Psychologie in den USA, vor 15 Jahren über genau diese vier Kardinaltugenden das Buch Der Glücksfaktor geschrieben hat. Er hat 100 Kulturen untersucht, um die Frage zu klären: Was sind die Stärken des Menschen, die man forcieren kann? Das Ergebnis waren bemerkenswerter Weise die Kardinaltugenden: Klugheit, Maß, Tapferkeit, Gerechtigkeit. Als weitere Faktoren zählt er Glaube und Liebe dazu, zwei der göttlichen Tugenden.

Seligman bestätigt also, was uns die Kirche lehrt…

Bonelli: Ja. Und er sagt, die Psychologie habe jahrzehntelang nur die Defekte des Menschen angeschaut, um sie zu reduzieren und in Schach zu halten. Man habe aber verabsäumt, nach den Stärken des Menschen zu fragen. Gerade sie aber sollten gepflegt, kultiviert, forciert werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: In fast allen Kulturen werden also die selben Haltungen als Faktoren angesehen, die zu einem gelungenen Leben beitragen. Also ein empirischer Nachweis, dass Tugenden zu einem glücklichen Leben beitragen?

Bonelli: Genau. Daher heißt das Buch auch Der Glücksfaktor. Seligman beschreibt Wege zum Glück. Er propagiert, man solle die Stärken, die Tugenden ausbauen. Diesen Ausbau kann und muss aber jeder selber machen.

Welche Folgen hat diese Sichtweise?

Bonelli: Aus dieser Warte ist Erziehung nicht eine Dressur, wie viele das sehen, sondern ein Anleiten des jungen Menschen, seine Freiheit darauf auszurichten, die Tugenden zu erwerben. Man kann Tugenden nicht aufzwingen. Aber man kann die Einsicht wecken, dass tugendsam zu leben, erstrebenswert, das Laster jedoch nicht erstrebenswert ist.

Die Tugenden anzustreben, wird wohl bei jedem Menschen anders stattfinden…

Bonelli: Die Menschen haben unterschiedliche Temperamente. Diesbezüglich unterscheidet man vier große Kategorien: den Melancholiker, den Sanguiniker, den Choleriker, den Phlegmatiker. Sie sind unterschiedlich in ihren Stärken und Schwächen. Der Melancholiker muss an anderen Punkten ansetzen als der Choleriker. Letzterer ist meist ein Starker, der nicht zur Falschheit neigt, denn Lüge ist ein Zeichen von Schwäche. Der Choleriker wird sich jedoch um Sanftmut, Maßhalten bemühen müssen. Übrigens waren die meisten Ordensgründer Choleriker. Und sie haben an sich zu arbeiten gehabt.

Dazu muss man wohl die eigenen Schwachstellen erkennen.

Bonelli: Ja. Aber das ist ja das Schöne, dass der Mensch die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis hat. Er kann sich die Frage stellen: Was bin ich von meinem Erbe her für ein Typ? Was habe ich von meinen Eltern mitbekommen? Und was fehlt mir? Daran beginne ich zu arbeiten, um auf dem Weg der Vollkommenheit voranzukommen.

Dazu bedarf es wohl großer Willensanstrengungen. Wie mobilisiert man den Willen?

Bonelli: Der Tugendhafte ist willensstärker als der im Laster Gefangene. Denn Laster ist ein Mangel sowohl an Freiheit wie an Willen. Obwohl sich der Lasterhafte in seiner Situation nicht wirklich wohlfühlt, fällt es ihm schwer, da herauszuwollen, weil es wehtut. Typisch dafür ist der Alkoholismus. Fast alle Alkoholiker schaffen es nicht, den Schmerz des Verzichtes auf sich zu nehmen. Sie brauchen eine schnelle Befriedigung. Die Langfristperspektive reicht nicht als Motivation.

Was erzeugt dann aber die notwendige Motivation?

Bonelli: Die Einsicht, dass das Laster das Leben ruiniert, kann den Willen mobilisieren. Ohne Einsicht kein Wille. Im Weltkatechismus gibt es einen wichtigen Punkt über die Leidenschaften. Da liest man, dass nicht jede Leidenschaft, also jedes Gefühl gut ist: „Der rechte Wille ordnet die sinnlichen Regungen, die er sich zu eigen macht, auf das Gute und auf das Selige hin. Der schlechte Wille erliegt den ungeordneten Leidenschaften und steigert sie.“

Der Wille braucht allerdings die Vernunft als Orientierungsquelle. Das versuche ich meinen Patienten nahe zu bringen. Ich sage: „Das ist Ihr Gefühl. Gut. Aber was sagt nun Ihre Vernunft?“ Diese Frage ist für viele sehr erhellend. Weitverbreitet glaubt man heute nämlich, das Gefühl habe immer Recht. Wenn jemand etwas nur tief genug in sich empfindet, dann sei das schon ok. Dem halte ich entgegen: Das Gefühl ist kein Orakel. Gefühle sind ambivalent. Man nehme nur die Eifersucht, den Neid, die Angst oder den Hass. Da sieht man leicht ein, dass sie zerstörerisch wirken.

Die Tugend besteht nun darin zu erkennen: Meine Vernunft sagt mir, dass mein Gefühl in die falsche Richtung geht. Also folge ich dem Gefühl nicht, obwohl es mich unter Druck setzt. Dieses Urteil rasch zu fällen, macht den tugendhaften Menschen aus. Jeder ist mit diesem Zwiespalt der Gefühle konfrontiert. Wer sich da schnell für das Gute entscheidet, hat es im Leben leichter.

Wie kommt das Gewissen bei diesen Überlegungen ins Spiel?

Bonelli: Das 2. Vaticanum sagt, der Mensch finde in seinem Inneren ein Gesetz, das er sich nicht selber gibt. Jeder weiß in seinem Inneren vom Natürlichen Sittengesetz, er hat die 10 Gebote quasi integriert. „Ehre Vater und Mutter“ – dass dies richtig ist, weiß der Indianer so wie der Ureinwohner Australiens. Das Gewissen ist die Stimme, die uns diese „basics“ in Erinnerung ruft, ein Indikator für Gut und Böse. Es kann allerdings verdreht oder von Fehleinsichten überlagert sein. Man kann es ideologisch überschreien, weil es eine leise Stimme ist. Ganz wegtun kann man das Gewissen nicht.

Welcher Stellenwert kommt in diesem Rahmen dem Gebet zu?

Bonelli: Das Gebet ist aus der Sicht der Psychologie ein Hinausgehen aus sich selbst. Man tritt mit etwas Höherem in Verbindung. Das Gebet objektiviert, relativiert, es hilft, über sich hinauszuwachsen. Es ist psychologisch gesehen sehr wertvoll, weil sich der Mensch mit anderen Augen zu sehen vermag. In der Anbetung sieht man sich selbst und seine Beziehungen mit den Augen Jesu. Gebet bringt eine Weite ins Leben, weil Gott diese Weite hat. Damit ist nicht alles über das Gebet gesagt, aber es drückt aus, was man aus psychologischer Sicht sagen kann.

Das Interview wurde im christlichen Monatsmagazin VISION 2000 veröffentlicht.

 

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Ein Plädoyer für den Zölibat aus Sicht der Psychologie https://seite.bonelli.tv/ein-pladoyer-fur-den-zolibat-aus-sicht-der-psychologie/ Tue, 11 Oct 2011 21:26:23 +0000 http://www.bonelli.tv/?p=418 Wer als Psychologe forscht und arbeitet, weiß, dass die zölibatäre Lebensform wie die Ehe dem Menschen alle Möglichkeiten gibt, an Leib und Seele gesund und glücklich zu leben – weil diese Entwürfe auf Verbindlichkeit angelegt sind. Eine Widerlegung gängiger Verdächtigungen des Zölibats von Raphael M. Bonelli Der Blickwinkel eines Psychiaters auf ein religiöses Phänomen wie […]

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Wer als Psychologe forscht und arbeitet, weiß, dass die zölibatäre Lebensform wie die Ehe dem Menschen alle Möglichkeiten gibt, an Leib und Seele gesund und glücklich zu leben – weil diese Entwürfe auf Verbindlichkeit angelegt sind. Eine Widerlegung gängiger Verdächtigungen des Zölibats

von Raphael M. Bonelli

Der Blickwinkel eines Psychiaters auf ein religiöses Phänomen wie den Zölibat ist ein spezieller, und man darf die Frage stellen, ob er überhaupt etwas Brauchbares aussagen kann. Die zweidimensional verflachte Sichtweise der Psychologie auf ein dreidimensionales Phänomen hat nämlich zwangsläufig einen Reduktionismus zur Folge. Ohne die dritte Dimension, der Transzendenz, ist aber das zölibatäre Phänomen nur mangelhaft erfassbar, da diese Lebensform wie keine andere vom Wesen her transzendent ausgerichtet ist. Weil sich aber die Kritik an dieser Lebensform fast ausschließlich in diesem platten Koordinatensystem bewegt, ist hier eine saubere Analyse doch von Nutzen.

Der Psychiater begegnet dem Menschen in dreierlei Krisen: erstens in endogenen psychischen Störungen, die durch ein Ungleichgewicht im Gehirnstoffwechsel verursacht werden, zweitens in reaktiven Störungen, die durch ein Trauma hervorgerufen sind, und drittens in neurotischen Störungen, die durch ein „Verheddern“ des Ich in sich selbst verursacht werden. Diese Störungen kommen sowohl beim Zölibatären und beim Verheirateten vor, wie auch beim Ungebundenen, der das Freiheits- und Lebensideal des Zeitgeistes lebt. Allerdings wird beim Zölibatären besonders gerne und unwissenschaftlich vorschnell ein kausaler Zusammenhang zwischen der psychischen Störung und seinen spezifischen Lebensumständen hergestellt. Ein depressiver oder alkoholkranker Pfarrer ist für einfache Gemüter schon ein schlagender Beweis, dass der Zölibat nie gelingen kann. Psychodynamisch auffällig ist, dass den zölibatären Menschen, die sich reflektiert und freiwillig in diesen Lebensstand begeben haben, schulmeisterlich ein quälendes „nicht dürfen“ unterstellt, während den Ungebundenen, die sich mehrheitlich unfreiwillig in diesem Zustand befinden, ein fröhliches „alles können“ a la James Bond konstatiert wird. Das lässt tief blicken auf die ideologisierten Scheuklappen vieler Zeitgenossen.

Während in der Krankheitsgruppe der endogen-biologischen Gebrechen alle drei Lebensstile gleich häufig betroffen sind, sind reaktive psychische Störungen, hier als zweite Gruppe benannt, in der Praxis beim Verheirateten häufiger. Grund dafür ist, dass er am engsten an Mitmenschen gebunden ist und damit häufig selbst ins Wanken gerät, wenn der Partner oder die Kinder in eine existenzielle Krise geraten. Ehe ist ein sehr enges, verwundbares und krisenanfälliges Lebensmodell, das einerseits viel Stütze und andererseits viel Belastung bedeuten kann. Quälende Ehesituationen gehen besonders an die Substanz und gehören zu den häufigsten Gründen, warum Psychotherapeuten aufgesucht werden. Hier hat der Zölibatäre den Vorteil, dass sein Lebenspartner – Gott – keine Launen und Egoismen aufweist, und auch nicht in die Krise fällt. Der Ungebundene hingegen ist sich selbst der Nächste.

Bei den neurotischen Störungen, der dritten Gruppe, findet man aus psychiatrisch- wissenschaftlicher Sicht bei der unverbindlichen Lebensform ein signifikant höheres Risiko, Süchte und neurotische Ängste zu entwickeln und im Alter durch Vereinsamung, Verbitterung und Sinnverlust eine höhere Suizidrate aufzuweisen als bei den verbindlichen Lebensformen. Erklärbar ist das durch die fehlende Hingabe in der James-Bond-Gruppe, im Vergleich zu Zölibatären oder Eheleuten, die sich selbst und ihre Bedürfnisse immer wieder aus Liebe zurückgestellt haben. Der Ungebundene steht hier nicht für jeden Ledigen, sondern für das zeitgeistige Lebenskonzepts der Unverbindlichkeit. Selbstverständlich können auch Ledige ein selbstloses Leben führen, und auch Eheleute und Zölibatäre sind den Gefahren der Selbstverfangenheit und des Egoismus ausgeliefert. Wer ein Leben lang danach trachtet, „sich selbst zu verwirklichen“ und „auf seine Bedürfnisse zu achten“ anstatt einem größerem Ideal zu dienen, der wird offensichtlich immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen und endet häufig in der Verzweiflung. Es entspricht dem Menschen, sich aus Liebe hinzugeben; das ängstliche oder egoistische Selbstbewahren hingegen führt in die Verbitterung. Die frei gewählte Verbindlichkeit in Ehe und Zölibat hat psychoprotektive – also seelensichernde – Funktion, auch wenn es manchmal zur Sehnsucht nach Ausbruch aus dieser Liebesbindung kommen kann.

Mit Hinweis auf die Psychologie kritisieren manche, dass der „Zwangszölibat“ der katholischen Priester menschlich unzumutbar sei. Da Zölibat eine lebenslange Entscheidung ist, würde aus psychologischer Sicht ein „Zwang“ in diese Richtung tatsächlich äußerst problematisch sein. Genauer analysiert meint die Kritik aber meist nur die Verbindlichkeit. Es ist weder Zwang noch Erpressung, wenn beispielsweise die Frau vor der Hochzeit klarstellt, dass sie keinen Ehebruch des Mannes wünscht. Das ist eine Bedingung, auf die der Bräutigam sich sehenden Auges einlässt. Gleichermaßen kann man sagen: Unter welchen Bedingungen die Kirche jemanden zum Priester weiht, ist ihre Sache. Wer sich darauf wissentlich einlässt, wurde weder gezwungen noch erpresst, sondern hat die Bedingungen akzeptiert. In der Regel ist die Entscheidung zum Zölibat wesentlich länger und besser geprüft als die zur Ehe: Irgendwann entscheidet er sich aber dann, und dann wird es verbindlich, denn der Zölibatäre ist eben nicht ungebunden, und seine Lebensform nicht unverbindlich. In der Psychotherapie sieht man recht häufig, wie Ehebrecher sich in einer Form von Selbstbetrug als Opfer darstellen, ihre Tat schönreden, die ursprüngliche Eheentscheidung als unfrei uminterpretieren und den Partner in die Täterrolle zwängen – nur um sich selbst die quälenden Schuldgefühle zu nehmen. Das nennt man Rationalisierung. Derselbe psychische Mechanismus tritt auch manchmal bei Zölibatären in der Krise auf, dann oft von medialem Jubel ob eines armen befreiten Gefangenen begleitet.

Oft wird auch mit (pseudo)psychologischem Ton postuliert, dass die permanente Ehelosigkeit um eines höheren Zieles willen psychologisch gesundheitsschädlich sei. Gerne wird hier Sigmund Freud zitiert: „Die Ursache der Neurose ist der von der Wirklichkeit aufgedrängte Verzicht auf Befriedigung der Sexualwünsche.“ Einerseits gilt das Postulat vom neurotisierenden Sexualverzicht heute nicht mehr als brauchbares therapeutisches Konzept für Pädophile und andere Straftäter, andererseits betont Freud selbst, dass nur die Unfreiwilligkeit zur Neurose führt. Sein Schüler Carl Gustaf Jung wird ein paar Jahre später genauer: „Wenn die sexuelle Enthaltsamkeit keine Flucht vor den Nöten und Verantwortungen des Lebens und des Schicksals ausdrückt, dann ist sie keinesfalls schädlich. Sie muss aber frei ausgewählt sein und auf religiösen Überzeugungen beruhen: alle anderen Motivationen sind zu schwach und verursachen Mangel an innerlicher Einheit, und dadurch die Neurose, welche immer einen moralischen Konflikt austrägt.“

In der heutigen Zeit betreiben manche eine Pathologisierung des kontrollierten Sexualtriebs. Der Zölibatäre – wie jeder normale Mensch – sollte den Input zu regeln wissen und eine Erregung vermeiden, die nur im Kontext einer Liebeshingabe sinnvoll sein würde. Jede Autoerotik führt beim Zölibatären in die falsche Richtung: Erregen und verdrängen ist der falsche Weg. Gas und Bremse gleichzeitig macht das Auto kaputt. Die Fähigkeit, auf Sexualität verzichten zu können, ist nicht nur möglich, sondern übrigens auch in jeder partnerschaftlichen Beziehung notwendig. Sex erscheint in der Pubertät vielleicht vorübergehend ein unbeherrschbar mächtiges Phänomen zu sein, das dann aber im Laufe der Zeit durch Reifung zu einem Instrument und einer Sprache der Liebe kultiviert werden muss. Sexualität muss jederzeit aus Rücksicht auf das geliebte Du oder um eines höheren Gutes willen zurückgefahren werden können. Auf Erotik kann der Mensch ohne Gesundheitsschäden verzichten, im Gegensatz zum Essen oder Trinken. Sexualität darf auch keinesfalls als Medikament für irgendwelche Störungen missverstanden werden.

Jede Lebensform kann ich-haft scheitern. Das heißt, dass sich der Mensch in sich selbst verspinnt, sich seiner ursprünglichen Liebe entfremdet und den Blick auf die anderen verliert. Zölibat ist zwar vom Konzept die selbstloseste Lebensform, und er unterliegt auch nicht der Versuchung des biologischen Egoismus, in dem die eigenen Kinder als narzisstische Kopien missverstanden werden – aber bei Verlust der Gottesbeziehung fällt der Zölibatäre auf sich selbst zurück und regrediert zum Unverbindlichen.

Ein religiös motivierter Lebensstil stabilisiert die psychische Gesundheit, wie eine rezente wissenschaftliche Metaanalyse an der US-amerikanischen Duke-University gezeigt hat. Das heißt, dass der Glaube das Leben prägt und formt. Bei Verlust der religiösen Überzeugung ist die zölibatäre Lebensform dann sinnentleert und wird vielleicht nur äußerlich aus Opportunitätsgründen fortgeführt. Dieser Spagat ist psychisch belastend, weil das „Warum“ verloren gegangen ist. Das führt zu einem Doppelleben, das nicht mehr glücklich macht. Ein Zölibatärer ohne Gebet triftet immer mehr in ein unverbindliches Selbstverständnis ab, bis er seine ursprünglich eingegangene Verbindlichkeit nicht mehr erträgt.

Tatsache ist, dass auf Dauer nur psychisch gesunde Persönlichkeiten zum zölibatären Weg fähig sind. Die Ehefähigkeit ist dabei eine Voraussetzung. Ein schizoides Desinteresse an jeglicher menschlicher Beziehung oder sexuelles Desinteresse an einer erwachsenen Frau ist keinesfalls Zeichen einer Berufung, sondern im Gegenteil ein Ausschlusskriterium. Der Zölibat ist nur dann wertvoll und echt, wenn ihn ein ehefähiger Mensch wählt. Ein eheunfähiger Mensch lebt niemals zölibatär, auch wenn er diesen Lebensstil äußerlich imitiert. Als aktuelles innerkirchliches Beispiel sei die Ephebophilie genannt– das sexuelle Interesse eines erwachsenen Mannes am geschlechtsreifen männlichen Jugendlichen. Diese Männer haben kein natürliches Interesse an einer Ehe. Die Daten der gegenwärtigen kirchlichen Missbrauchsfälle von Deutschland, Österreich und der Schweiz ähneln einander: etwa 70 Prozent der sogenannten Pädophilie-Fälle waren ephebophile Taten, 20 Prozent waren Übergriffe auf geschlechtsreife Mädchen und zehn Prozent echte Pädophilie-Fälle (Kinder unter zehn Jahren). Der „John Jay Report“ aus den USA findet ganz ähnliche Zahlen, insbesondere bei den sogenannten „Specialists“- Tätern. Dort waren 82 Prozent der kirchlichen US-Missbrauchsopfer zwischen 1950 und 2002 männlichen Geschlechts. Ein ehefähiger zölibatärer Mann kann zweifellos manchmal bei einer erwachsenen Frau schwach werden – unter keinen Umständen wird er aber ephebophil oder pädophil, auch wenn er schon sehr lang auf Sexualität verzichtet hat.

Der bekannte US-Psychologe Martin Seligmann konstatiert zu Recht, dass die alte Psychologie defektorientiert war – dass also alles, was unter die psychologische Lupe genommen, nach Defekten abgesucht wurde. Die moderne positive Psychologie hingegen, die sich in den USA immer mehr durchsetzt, sucht nach Stärken und Ressourcen des Menschen, und pathologisiert nicht sofort jeden Lebensumstand.

In der Tat findet man nach der Methode der modernen Ressourcenpsychologie viele Möglichkeiten, die eine zölibatäre Lebensform eröffnet. Die emotionale Energie, die der Verheiratete zu Recht in Partnerschaft, Nestbau und Brutpflege investiert, ist beim Zölibatären verfügbar für die Gottesbeziehung „mit ungeteiltem Herzen“ und zum Dienst am anderen. Beziehungsarbeit, bei Verheirateten Zweisamkeit mit dem Partner, beim Zölibatären Gebet, ist eine wertvolle Investition in die Zukunft, die der Unverbindliche zu seinem langfristigen Schaden nicht in dem Maß leistet. Der Zölibatäre kann die Freiheit des Junggesellen mit der Verbindlichkeit und damit der menschlichen Reifung des Verheirateten vereinen. Das gelungene zölibatäre Leben zeigt ein Nähe-Distanz-Phänomen: Er kann durch seine selbstlose Hingabe große Nähe herstellen und gleichwohl die nötige Distanz halten. Genau wegen der Verpflichtungen, die er auf sich genommen hat, versteht der Zölibatäre viele Dimensionen des Ehelebens und hat das Potenzial, sich zu einem selbstlosen Berater zu entwickeln. Johannes Paul II. und Mutter Teresa sind zwei Bespiele für Menschen, die nur durch diese Lebensform ein äußerstes Maß an Hingabe an Gott und die anderen leben konnten. Vieles tief Menschliche ist nur durch Verbindlichkeit erfahrbar: Lebenserfahrung, Treue, Konstanz auch an „schlechten Tagen“. Daraus resultiert mehr Beziehungsfähigkeit, mehr Intensität in der Begegnung, mehr Freiheit, mehr Überblick. Er kann dadurch mehr die Richtung angeben, und das braucht sowohl die Kirche wie auch die Gesellschaft.

Der Artikel wurde in der deutschen Tagespost veröffentlicht. 

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