mehr: Was war der Auslöser bzw. die Idee, diese Fachtagung zu veranstalten?

Univ.-Doz. Dr. Raphael Bonelli: Das Anliegen aller Veranstaltungen des Institutes für Religiosität in Psychiatrie & Psychotherapie (RPP) ist eine Versöhnung von Religiosität als essentiellen Teil des Menschseins mit dem psychologischen Forschen und Handeln. Dazu werden stets aktuelle Themen, die in beiden Gebieten eine wichtige Rolle spielen, aufgegriffen und einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Gerade bei „heißen“ Themen, die „unter den Nägeln brennen“, können so Sachlichkeit und Ausgewogenheit in die Diskussion eingebracht werden; neue Aspekte und oft unterrepräsentierte Schwerpunkte tragen dazu bei, die eigene Sichtweise und damit auch die Meinungsbildung zu erweitern.

Hat der moderne Mensch ein Problem mit Autorität – wenn „ja“, warum?

Bonelli: Die Titelstory einer österreichischen Wochenzeitschrift, die eher „linke“ Positionen vertritt, lautete am 24.9.2012: „Die neue Lust an Verboten – Warum sehnt sich der Mensch nach Vorschriften?“ Offenbar hat auch der moderne Mensch nicht prinzipiell ein Problem mit Autoritäten, und das ist auch realistisch, denn als soziale Wesen müssen wir stets einen Modus finden, mit den Regeln und Ansprüchen der Umgebung adäquat umzugehen. Anders als früher scheint es jedoch eine größere Wahlfreiheit zu geben, welcher Autorität der einzelne gehorchen möchte. Diese neue Freiheit wird gelegentlich als Ablehnung von Autorität allgemein interpretiert. An die Stelle der früheren Verbote und Tabus sind aber ganz einfach andere getreten, deren Einhaltung und Befolgung um nichts weniger penibel kontrolliert und abverlangt werden als früher.

Um gehorsam zu sein, muss ich Autorität anerkennen. Autorität erkenne ich an, wenn sie mir (zeitlose) Wahrheiten vermittelt. Nun werden Wahrheiten zunehmend relativiert: Wahr ist, was ICH PERSÖNLICH als „wahr“ erkannt habe und was FÜR MICH gut ist und funktioniert. Kann es daher „Wahrheit für alle“ überhaupt geben? Wenn ja, wer, mit welchem Recht, kann diese absolute Wahrheit für sich beanspruchen?

Bonelli: Die Erde hat sich schon immer um die Sonne gedreht, unabhängig davon, ob frühere Generationen das für wahr gehalten haben oder nicht. Es gibt also Wahrheit, die unabhängig davon existiert, ob jemand sie als solche akzeptiert oder nicht. Daher kann und muss sie auch niemand für sich beanspruchen. Wer Wahrheiten „für sich“ nicht annimmt, sagt damit lediglich etwas über sein eigenes Denken und Erkennen aus – also wie er zur Wahrheit steht, aber nichts über ihr Wesen oder ihre Existenz. Eine der spannenden Aufgaben des Lebens ist es, universelle, allgemeingültige Wahrheiten von den kursierenden individuellen oder zeitgeistigen Meinungen und Ideen zu unterscheiden. Das könnte man dann Weisheit nennen. Normalerweise erkennt man aber selber nur einen kleinen Bereich der Wirklichkeit, das Ganze zeigt sich oft erst in der Zusammenschau von verschiedenen Perspektiven. Daher ist die Suche nach der Wahrheit dann erfolgversprechender, wenn man sie gemeinsam mit anderen unternimmt, vor allem, wenn man sich die bereits gewonnenen Erkenntnisse anderer zunutze macht. Gehorsam bedeutet dann in diesem Zusammenhang, dem Wissen und der Kompetenz anderer zu vertrauen. So erweitert sich der eigene Horizont über die individuellen Möglichkeiten und Wahrnehmungsgrenzen hinaus.

Braucht „Selbstverwirklichung“ einen – möglicherweise einengenden – Rahmen? Wenn ja: Ist es dann noch legitim, von „Selbstverwirklichung“ zu sprechen?

Bonelli: Gemäß den psychologischen Forschungen von Abraham Maslow gilt Selbstverwirklichung als höchstes Lebensziel und bedeutet, die im Menschen angelegten Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen. Es greift aber zu kurz, wenn sich das Individuum in diesem Bemühen nur noch um sich selbst dreht und dabei die Aufmerksamkeit für seine Umgebung verliert. Dann bleibt „Selbstverwirklichung“ unfruchtbar, denn Menschen sind soziale Wesen. Das „Selbst“ ist in keiner Kultur vollkommen autonom. Seine „Verwirklichung“ muss diese soziale Komponente daher notwendigerweise einschließen, um vollständig zu sein. Besonders im Mannschaftssport, aber auch in der darstellenden Kunst wird diese Bedeutung der Einordnung des Einzelnen in einen größeren Kontext offensichtlich: auch das größte Talent kann letztlich nur dann zur Fülle seiner Möglichkeiten gelangen und Erfolg haben, wenn es sich ins Team einfügt – also gehorsam einem Teamleiter, Dirigenten oder Regisseur unterordnet. Selbstverwirklichung, die sich ausschließlich auf ein Individuum beschränkt, kann daher nur lückenhaft sein, weil die soziale Dimension für das Wesen des Menschseins absolut fundamental ist.

Das Interview wurde im Monatsmagazin mehr veröffentlicht.