Der Sonntag: Was ist „Internetsexsucht”?
Bonelli: Internet-Sexsucht gilt nach dem amerikanischen Psychiater Jerald J. Block neben pathologischem Internet-Spielen und exzessivem Chatroom-Gebrauch als eine der drei Untertypen der Internetsucht. Erst vor zwei Jahren definierte er in der federführenden psychiatrischen Zeitschrift „American Journal of Psychiatry” diese drei Formen mit vier gemeinsamen Kriterien:
- exzessiver Gebrauch des Internets, verbunden mit Verlust an Zeitgefühl oder Ignorieren basaler Notwendigkeiten (z.B. Essen, Trinken)
- Entzugssymptome, wie Ärger, Spannung, und/oder Depressionsgefühle, wenn der Computer nicht erreichbar ist
- Dosissteigerung, d.h. immer bessere Rechner, mehr Software, mehr Stunden vor dem Bildschirm
- negative soziale Interaktionen, inklusive Streit, Lügen, Leistungsabfall, soziale Isolation und konsekutiven Erschöpfungsgefühlen.
Wenn also Cybersex zu Kontrollverlust und erheblichem subjektiven Leidensdruck führt, wird das im medizinischen Sprachgebrauch als Sucht oder Impulskontrollstörung eingeordnet. Diesem Thema ist unsere Tagung (www.internetSEXsucht.at) gewidmet. Der Gebrauch von Internetsex selbst wird in der Psychiatrie nicht pathologisiert.
Was hat sich durch das Internet geändert?
Bonelli: Durch das Internet haben sich die Möglichkeiten der Pornographie erheblich erweitert. Der Online-Zugang ist einfach, billig und anonym. Die Inhalte in Form von Fotos, Filmen, Texten, Chats zu zweit oder mit mehreren Personen sind meist devianter (d.h. abwegiger) als bei gedruckter Pornographie. Nicht selten verlangen die „User” nach immer intensiveren Reizen und wechseln so von „Softpornos” über „Hardcore” zu Gewalt- und schließlich Vergewaltigungspornos.
Wir müssen neuere Studien zur Kenntnis nehmen, die zeigen, dass Personen mit häufigem Pornographiekonsum siebenmal so häufig sexuelle Aggressionen zeigen wie diejenigen, die nie Pornographie konsumierten.
Das „Internet-Angebot” bedient Verantwortungsscheu, Bequemlichkeit und Bindungsangst. Sind solche Einstellungen heute stärker ausgeprägt als früher?
Bonelli: Mit diesen Punkten haben Sie sicherlich recht, wenn wir auch heute noch nicht alles mit Studien belegen können. Wir leben in einer unverbindlichen Zeit. Das spielt bei der beschriebenen Störung sicherlich eine Rolle. Häufige Motive für Internetsexsucht sind mangelnde Partnerharmonie, Einsamkeit und fehlender Lebenssinn. Die Sucht verstärkt jedoch das Leiden.
Was bedeutet Internetsexsucht für die Partnerschaft?
Bonelli: Sexualität ist eine menschliche Dimension, die sich bei exzessivem Ausleben ohne Gegenüber zunehmend verirrt. Die wenig realistischen Vorbilder von stets potenten Männern und immer bereiten Frauen verstärken oft die sexuelle Unzufriedenheit in der Partnerschaft – falls eine besteht. Studien zeigen, dass ständiger Konsum von Pornographie die Zufriedenheit mit der eigenen Sexualität sinken lässt.
Viele Online-Sexsüchtige sind daher weniger aufmerksam für den Partner und das soziale Umfeld, die Beziehungsfähigkeit leidet. Denn statt mit anderen zu kommunizieren, kreisen sie im Leben zunehmend um sich selbst und um die eigene Befriedigung.
Wie sehen Sie die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche vielfach ihre ersten Kenntnisse von Sexualität aus dem Internet beziehen?
Bonelli: Das birgt Probleme, weil oft die Beziehungsdimension ausgeklammert bleibt. Pornographie ist kein geeignetes Mittel zur Aufklärung oder zum Umgang mit der eigenen Sexualität. Wir beobachten in der Praxis bei sexsüchtigen Männern meist eine egoistische Abschätzigkeit gegenüber Frauen, die in erster Linie als Körper wahrgenommen werden.
Mit der eigenen Sexualität menschengemäß umzugehen, sie als Kommunikationsmittel
einer ehelichen Beziehung zu gebrauchen, ist eine Errungenschaft jeder menschlichen Kultur. Andernfalls – wenn das Hintanstellen der eigenen Befriedigung nicht erlernt wurde – beginnt der Missbrauch anderer. Diesen Reifungsprozess lernt der Mensch in seiner Jugend. Wenn er da durch zu viel Bilder verwirrt wird, kann er vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.
Ist Internetsexsucht „gefährlich”?
Bonelli: Internetsex ist devianter, weil unpersönlicher, und insofern kann es gefährlich werden. Der Partner als Korrektiv fehlt. Deswegen ist das Netz schon zum Tummelplatz für alle mögliche Perversionen geworden. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Pädophilie. Virtuelle Identitäten ermöglichen die leichte Vernetzung und anonyme Kontaktanbahnung zwischen Täter und Opfer.
Kinderpornographie dürfte bis zu drei Prozent der Internetpornographie ausmachen, also etwa 100.000 Websites weltweit. Die Pädophilen-Websites sind eng mit Seiten anderer sexuellen Abartigkeiten verknüpft. Das Internet ermöglicht die gegenseitige Beeinflussung von Fantasien und realem Verhalten, wie es beispielsweise beim Kannibalen aus Rotenburg augenscheinlich wurde. Dieser fand für seine perversen Schlachtungsphantasien im Internet auf einschlägigen Chat-Rooms 204 Freiwillige (!!), aus denen er sein späteres Opfer auswählte.
Wie sieht die Therapie von Internetsexsüchtigen aus?
Bonelli: Die meisten Betroffenen bleiben aus Scham jahrelang mit ihrem Leid alleine, weil sie sich niemanden anvertrauen können. Ist der Schritt zum Therapeuten geschafft, sind die Chancen auf Heilung groß. Sich öffnen zu können, ist eine große Erleichterung. Meist geht dem ein jahrelanges Ringen voran, oft kombiniert mit dem Selbstbetrug, dass man da schon selber rauskommt. Als systemischer Psychotherapeut arbeite ich dann an der Beziehungsfähigkeit. Ich beobachte durchwegs ein schnelles Stabilisieren in der Therapie.
Meinen Sie, dass der Zölibat sexuellen Verirrungen Vorschub leistet?
Bonelli: Nein, ganz im Gegenteil. Wir wissen heute, dass Pädophilie hauptsächlich in der Familie vorkommt und dass nach einer Studie der Berliner Charité zölibatäre Männer ein vielfach geringeres Risiko haben, pädophil zu werden/sein.
Doch sind zwei Punkte unbedingt zu beachten: Einerseits muss der Zölibat auch gesund gelebt werden. Wer diese Lebensform gewählt hat, sollte auch selektiv damit umgehen, welchen visuellen und persönlichen Einflüssen er sich täglich aussetzt. Ungesund ist beim Zölibatären jedenfalls die apersonal gelebte Autoerotik, die den Betroffenen in eine egozentrische Phantasiewelt ohne persönliches Korrektiv entführt. Hier ist das Abgleiten in paraphile (abweichend liebend) Bereiche möglich.
Der zweite Punkt ist die strenge Selektion der Priesteramtskandidaten: Wir wissen, dass Pädophile und andere Paraphile gerne in Berufe drängen, bei denen sie mit ihren Opfern unauffällig in Kontakt kommen können. Hier hat die Kirche strenge Kriterien, die aber möglicherweise wegen des Priestermangels nicht immer lückenlos beachtet wurden.
Zusammenfassend sehe ich im Zölibat ein beeindruckendes und notwendiges Zeichen, dass der Mensch seine sexuellen Wünsche aus Liebe zurückstellen kann – eine Fähigkeit, die für jede menschliche Beziehung nötig ist.
Das Interview wurde in der Wochenzeitung der Erzdiözese Wien Der Sonntag veröffentlicht.