kath.net: Herr Dozent, wieso ist Verbitterung das nächste Thema Ihrer Tagungsreihe nach den Themen „Schuldgefühl“ und „Liturgie“?

Bonelli: Nun, einerseits kann ich in meiner Praxis sehen, wie weit verbreitet die Verbitterung heute ist. Das Thema ist brandaktuell. Die Diagnose der „posttraumatischen Verbittungsstörung“ wurde erst kürzlich in Berlin wissenschaftlich beschrieben. Der bekannte Autor, Michael Linden, kommt übrigens auch als Referent zu unserer Fachtagung.

Andererseits ist das Thema besonders in Verbindung mit den neuen Forschungsergebnissen über die Vergebung interessant. Besonders in den USA gibt es heute eine Fülle von wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich genau mit diesem Thema beschäftigen. Eine Kombination dieser beiden Themen bot sich an, da sie bis jetzt noch nie in einer Tagung realisiert wurde.

Wieso hat Ihrer Meinung nach Verbitterung etwas mit Vergebung zu tun?

Bonelli: Bei meinen verbitterten Patienten sehe ich oft viel Unversöhnlichkeit, die meist vom Betroffenen selber nicht einmal wahrgenommen wird. Die „Verletzung“ wird entweder tabuisiert und ist dann für den Patienten gar nicht vorhanden, oder sein Erklärungsmodell als Opfer nimmt ihm jede Möglichkeit, aktiv zu werden – und auch die Vergebung ist ja ein aktives Tun.

Erst kürzlich habe ich einen Patienten auf seine Unversöhnlichkeit angesprochen: nach einer Woche des Nachdenkens kam er befreit in die nächste Therapiestunde, denn endlich hatte er wieder einen Freiraum des eigenen Handelns gewonnen, der ihm als reines „Opfer“ nicht präsent war: die Vergebung.

Ist Vergeben nicht eine rein religiöse Kategorie?

Bonelli: Nein. Vergeben können alle Menschen, ohne Vergebung ist die menschliche Gesellschaft verloren. Aber natürlich hat besonders das Christentum die Vergebung sehr betont, da sie ja dem Menschen gemäß ist. Die heutige Forschung untersucht Vergebung als psychosoziale Realität in Verbindung mit psychischer Gesundheit, nicht als Unterform der Religiosität.

Natürlich wissen wir auch, dass oftmals religiösen Menschen die Vergebung leichter fällt – aber das ist auch nicht immer so. Es gibt in den letzten zehn Jahren eine Fülle von wissenschaftlicher Literatur über die „Forgiveness“ (in etwa Vergebungsbereitschaft), die auf eine ganz klar psychostabilisierende Funktion hinweist.

Wie sind diese wissenschaftlichen Daten zu erklären?

Bonelli: Naja, das ist eigentlich naheliegend. Wenn man immer nur darüber nachgrübelt, wer aller wie gemein zu einem war, dann wird man damit nie fertig. Menschen sind halt manchmal unüberlegt, egoistisch, neidisch oder scheinbar sogar boshaft und werden gegenüber anderen Menschen schuldig. Das ist die Realität.

Ich glaube, dass die meisten Menschen einmal im übertragenen Sinn „über Leichen“ gegangen sind, es aber natürlich nicht so empfunden haben. Während wenn man selbst einmal unter die Räder kommt, dann tut das Ganze plötzlich sehr weh. Und dann ist die Frage: wie geht man damit um? Wenn man das Thema im Sinne der Vergebung abschließen kann, noch dazu versöhnlich, dann tut das der Seele gut.

Können Sie da ein Beispiel nennen?

Bonelli: Viktor Frankl hat bei seinen Patienten im Krankenhaus eine Umfrage gemacht, und herausgefunden, dass die meisten eine hohe Anzahl an „life events“ (in etwa traumatische Lebensereignisse) zu berichten hatten. Dann kam er auf die geniale Idee, dieselben Fragen an das Pflegepersonal des Krankenhauses zu richten, und siehe da: genauso viele „life events“.

Daraus schloss er, dass unsere Antwort auf die Herausforderungen des Lebens entscheidend ist, dass nicht nur die Verletzungen uns prägen, sondern eben unsere Haltung zu diesen Traumata. Bildlich gesprochen: man wird Patient (indem man ständig seine Wunden leckt) oder Helfer (indem man sich mit seinen Erfahrungen auf den anderen ausrichtet), je nach der innern Antwort auf das Trauma.

Kann man also sagen, entweder man vergibt oder man verbittert?

Bonelli: Nun, diese Kurzformel ist sicherlich etwas provokant und verkürzt die Komplexität des Themas. Aber da ist viel Wahres dran. Michael Linden spricht von der „Weisheitstherapie“; dabei arbeitet er verhaltenstherapeutisch an Dingen wie Perspektivenwechsel, Verständnis der Situation des „Täters“, Übersicht über die Gesamtsituation, Relativierung der Subjektivität. Aber letztlich könnte man wahrscheinlich schon auf die von Ihnen genannte Formel kommen.

Ist Ihre Tagung ausschließlich für Fachpublikum?

Bonelli: Nein, jeder Interessierte ist willkommen. Die Themen sind wissenschaftlich profund, aber allgemein verständlich aufbereitet.

Das Interview wurde in Internetmagazin kath.net veröffentlicht.