Der Sonntag: ”Verletzung, Verbitterung, Vergebung“ lautete der Titel der Tagung am 10.Oktober in Wien: Warum dieses Thema?
Bonelli: Wir beobachten in den psychotherapeutischen Praxen in zunehmendem Maß Verbitterung. Das zeigt auch die Nachfrage nach unserer Veranstaltung, die mit 600 Teilnehmern alle Erwartungen übertroffen hat. Grund dafür ist die erhöhte Verletzbarkeit und Kränkbarkeit des heutigen Menschen. Die Verbitterungsstörung als psychiatrische Realität entsteht infolge einer Kränkung, die den Menschen in seinem zentralen Lebensbereich trifft.
Das kann eine Kündigung sein, die nach jahrelanger Tätigkeit am selben Arbeitsplatz erfolgt, die Trennung in einer Partnerschaft oder auch gebrochene Treue. Betroffene fühlen sich von anderen Menschen, von Gott oder dem Schicksal ungerecht behandelt und hadern oft damit, dass es den anderen besser geht. Aus dem ständigen Kreisen mit dem widerfahrenen Schicksal kann sich eine manifeste psychische Krankheit entwickeln.
Alles Unglück wird auf ein Unrecht in der Vergangenheit zurück geführt, das nicht mehr änderbar ist, das aktiv in Erinnerung gehalten wird und an dessen Wunden ständig gewühlt wird.
Vergeben zu können ist auch Gnade … Warum tut sich der Mensch mit dem Vergeben schwer?
Bonelli: Bei Verletzung und Traumatisierung geht es um das Thema: Wie gehe ich mit der Schuld um, die andere mir gegenüber haben? Aber der Umgang mit dieser Schuld fällt jenen leichter, die sich bewusst machen: Auch ich habe dem anderen gegenüber Schuld. Und das ist halt nicht so einfach.
Es fällt viel leichter, sich als Opfer zu erkennen als als Täter. Oft sehen sich beide Seiten eines Konflikts als Opfer. Sie sind so tief in der Opferrolle drinnen, dass sie gar nicht erkennen können, dass auch sie schuldig geworden sind. Dieses Faktum ist in der Psychotherapie früher oft ausgeblendet worden. Daher war auch das Thema Vergebung schwer zu behandeln. Es ist aber für Patienten ein wichtiges Aha-Erlebnis, wenn sie merken: Auch ich handle nicht immer richtig und gut; auch ich werde an anderen schuldig.
Warum ist Vergebung notwendig?
Bonelli: Rein psychodynamisch gesehen ist Vergeben eine sehr effektive Form, das Vergangene loszulassen und damit seine Traumata zu überwinden. Man ist in der neueren wissenschaftlichen Forschung zur Erkenntnis gekommen, dass Vergebung eine wichtige Rolle im psychodynamischen Prozess der Trauma-Aufarbeitung spielt. Vergebung ist tief im Menschen verankert; sie ist dem Menschen gemäß. Und es ist wichtig, vergeben zu lernen, weil jeder von uns dauernd an anderen schuldig wird.
Es ist eine Lebensfrage, wie man mit erlittenem Unrecht umgeht. Die absolute Gerechtigkeit hier und jetzt gibt es hier auf Erden halt nicht. Darauf zu pochen treibt uns in die Rolle eines Michael Kohlhaas, der mit seinem Gerechtigkeitsfanatismus sich selbst und seiner Umgebung schweren Schaden zugefügt hat. Die einzig gute Art, mit dieser Tatsache umzugehen ist, dass man die Kränkungen, die andere einem zugefügt haben, loslässt, und sie sich nicht dauernd in Erinnerung ruft.
Wie weit ist der Mensch selbst für seine Verbitterung verantwortlich?
Bonelli: Die lange, manchmal sogar lebenslange Dauer der Verbitterung kommt dadurch zustande, dass Betroffene oft in einer passiven Opferrolle verharren. Es bildet sich eine Unversöhnlichkeit, die das Verstehen der anderen Seite unmöglich macht. Aus Trotz gehen viele nicht in Therapie, sondern verbohren sich im eigenen Unglück. Das hat zwar den Effekt, dass das Umfeld Mitleid bekundet, doch bietet das bloß eine bittere und kurze Befriedigung. Zudem verstärkt Mitleid in diesem Fall bloß die passive Haltung und erschwert aktive Änderungen. Die Eigenverantwortung besteht darin, aus der Unversöhnlichkeit auszubrechen.
Von Vergebung sprechen Religion und die Psychotherapie. Gibt es eine neue Annäherung zwischen Psychotherapie und Religiosität?
Bonelli: Ja. Nach den Thesen des 19. Jahrhunderts, dass Religion prinzipiell ”unwissenschaftlich“ sei – die übrigens von Sigmund Freud übernommen wurde und sein Werk prägt – bewegen wir uns heute in der Psychotherapieforschung wieder mehr auf der empirischen Ebene. Und hier lässt sich in vielen Bereichen die gesundheitsfördernde und psychohygienische Dimension der Religiosität wissenschaftlich feststellen.
Die Psychotherapie stellt also heute nicht mehr den Anspruch, die Nachfolge der Seelsorge anzutreten. Insofern können Psychotherapie und Religion auf dieser Grundlage wieder besser miteinander arbeiten als etwa noch vor 20 Jahren. Unser ”Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie“ ist gegründet worden, um diesen Prozess des Dialogs voranzutreiben.
Das Interview wurde in der Wochenzeitung der Erzdiözese Wien Der Sonntag veröffentlicht.