Der Sonntag: Was meint Askese im eigentlichen Sinn?
Bonelli: Askese bezeichnet seit der griechischen Antike eine Übungspraxis im Rahmen von Selbstschulung aus verschiedenster Motivation. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das durch Bemühung mehr er selbst werden kann – und durch Sich-Gehen-Lassen sich selbst immer mehr verliert. Den psychologischen Hintergrund dieses Phänomens nennt man die „Fähigkeit zur Selbstprägung“: nicht nur die Gene und die Umgebung prägen eine Persönlichkeit, auch der Mensch selbst hat die Freiheit, sich selbst zu verändern, an sich zu arbeiten. Das nennt man Charakterbildung.
Der Mensch kann „etwas aus sich machen“ – oder eben nicht. Die persönliche Bemühung mit dem Ziel, besser zu werden, führt dazu, dass der menschliche Geist freier wird und sich Höherem widmen kann: dem Schönen, dem Wahren, dem Guten. Oder er kann andererseits mehr und mehr verrohen und verkommen – dann ist ihm schon die kleinste Anstrengung zu mühsam und der leiseste Gedanke zu lästig. Dieses mühevolle An-Sich-Arbeiten nennt man Askese, das im idealen Fall zur Mystik – zur Vereinigung mit Gott – führen kann.
Der Mensch besteht aus Bauch, Kopf und Herz. Was macht den „Bauch“ aus?
Bonelli: Der Bauch steht bildhaft für Emotionen, Leidenschaften und Gefühle. Heute sagt man dazu gerne „Bedürfnisse“. Bauchgefühle sind moralisch weder gut noch schlecht. Sie denken und urteilen auch nicht, sind einfach eine physiologische Realität im Menschen. Ihr Prinzip ist die Lustmaximierung und Unlustvermeidung.
Wofür steht der „Kopf“?
Bonelli: Der Kopf steht für die Vernunft. Sein Koordinatensystem ist die Logik und die Nützlichkeit. Er versucht, die Wirklichkeit zu erklären, Probleme zu analysieren und Lösungen zu erarbeiten. Er erkundet, wie die Dinge wirklich sind. Der Kopf hat die Aufgabe, das Begehren und die Bedürfnisse des Bauches vernünftig zu prüfen. Er ist aber abhängig vom Herzen. Wenn diese höhere Instanz nicht integer ist, so werden alle Anträge des Bauches am arbeitslosen Kopf vorbeigeschwindelt und ungefiltert durchgelassen – die guten wie die schlechten. Dann wäre der arme „kopflose“ Mensch hilflos seinen momentanen Launen, Emotionen und Leidenschaften ausgeliefert. Wie eine Nussschale im Meer treibt es ihn richtungslos mal hierhin, mal dahin.
Was bleibt dann „noch“ für das „Herz“?
Bonelli: Das Herz ist die oberste Instanz, die Entscheidungsmitte des Menschen, das Freiheitsorgan. Es beinhaltet den Willen und das Gewissen. Das Herz macht den Menschen aus, denn es klopft sowohl Bauchgefühle wie auch Kopfideen auf Gut und Böse ab. Das Herz gibt vor, was langfristig anzustreben ist. Der Kopf prüft daraufhin aufgrund seiner Logik und Vernunft, ob die Richtung, in die der Bauch – oder die Umwelt – zieht und drängt, das angestrebte Ziel erreicht lässt oder ob eine Korrektur notwendig ist.
Das Herz ist der Ort der persönlichen Entscheidung, der großherzigen Selbstlosigkeit und des kleinherzigen Egoismus – und damit auch der Schuld. In der Bibel lesen wir, dass die Sünde im Herzen beginnt. Und dass das Herz andererseits der Ort ist, mit dem wir beten.
Das Interview wurde in der Wochenzeitung der Erzdiözese Wien Der Sonntag veröffentlicht.