Beichte | Raphael M. Bonelli https://seite.bonelli.tv Vorträge, Diskussionen, Interviews Tue, 28 Jul 2020 12:38:57 +0000 de hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4.16 Zeit für Bekehrung https://seite.bonelli.tv/zeit-fuer-bekehrung/ Sun, 19 Apr 2020 09:38:00 +0000 https://seite.bonelli.tv/?p=225211 Raphael Bonelli spricht darüber, wie uns die Krise zum Wesentlichen zurückführt, wo die Kirche jetzt erfinderischer werden muss und warum Singles jetzt besonders leiden.

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Die ideale Zeit um sich zu bekehren

Die derzeitige Lage sei sowohl für die Gesellschaft als auch für die Kirche dramatisch, genau das gelte es aber zu nützen: „Dramatik ist immer gut, um neu darüber nachzudenken: Was macht mich aus, was ist mir wichtig, was ist wesentlich in meinem Leben? Ich merke das bei all meinen Patienten, dass sie jetzt neu darüber nachdenken dürfen und können, was in ihrem Leben wirklich zählt. Leider ist es auch bei vielen Gläubigen so, dass sie in einem Hamsterrad der Betriebsamkeit stecken, wo sie einfach den ,heidnischen Göttern‘ – Arbeit, Leistung und Wertschätzung von außen – so viel Stellenwert geben, dass der wahre Gott total ins Hintertreffen kommt“, stellt Bonelli fest.

 

Das gelte nicht nur allgemein für Gläubige, sondern auch für kirchliche Angestellte, ja sogar für Priester. „Deshalb kann diese Osterzeit eine neue Chance sein, dass wir als Kirche neu re ektieren, was macht uns aus, was ist das Wesentliche und was ist nur Beiwerk. Wie können wir zurückkommen zu den Sakramenten, zur Begegnung mit Jesus Christus? Wie können wir wesentlicher werden, um uns nicht mehr in einer Betriebsamkeit zu verlieren, in der viele nur der Anerkennung von außen nachhetzen?“, regt der Buchautor mit Fragen zum Nachdenken an.

Der ganze Artikel, der am 19. April 2020 im der Zeitung Der Sonntag erschienen ist, kann hier nachgelesen werden.

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Sich der Schuld stellen https://seite.bonelli.tv/sich-der-schuld-stellen/ Tue, 06 Nov 2018 08:59:00 +0000 https://seite.bonelli.tv/?p=225076 In der Seelenheilkunde gibt es gegenwärtig eine Trendwende: Zunehmend raten Therapeuten dazu, sich der eigenen Schuld zu stellen, statt sie zu verdrängen.

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CNA deutsch

Die Beichte kann warten

Aus Sicht der modernen Medizin liegen die Patres völlig richtig. In seinem Buch „Selber Schuld!“ schreibt der Wiener Neurowissenschaftler und Psychiater Raphael Bonelli: „In der Psychiatrie begegnet man heutzutage kaum noch Menschen, die Sexualität verdrängen…aber verdrängt wird heute mindestens genauso viel Bedrohliches wie damals: die eigene Schuld nämlich“. Nachdem der Begriff „Sünde“ jahrzehntelang aus dem psychotherapeutischen Vokabular praktisch verschwunden war, lässt sich in der Seelenheilkunde gegenwärtig eine Trendwende beobachten. Zunehmend raten Therapeuten dazu, sich der eigenen Schuld zu stellen, anstatt sie zu relativieren oder zu verdrängen. Der Grund: „Verdrängte Schuld bleibt im Unterbewussten und beginnt ein Eigenleben… wir sind nicht automatisch entschuldigt, nur weil wir eine wissenschaftliche Erklärung für unser Verhalten haben. Wir sind nicht schuldlos, wenn wir unseren Zorn ungezügelt ausleben, unserem Neid oder unserer Trägheit nachgeben, unseren Hochmut pflegen“, findet Bonelli. „Auch wenn man in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen ist, kann man erkennen, dass man Grenzen überschreitet“, zitiert er den Psychologen Heiko Ernst. Und sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern solcher Grenzüberschreitungen seien psychische Schäden die Folge.

Der ganze Artikel, der am 6. November 2018 auf der Nachrichtenplattform CNA deutsch erschienen ist, kann hier nachgelesen werden.

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Das Ende des Selbstbetrugs https://seite.bonelli.tv/das-ende-des-selbstbetrugs/ Thu, 11 Aug 2016 12:00:09 +0000 http://www.bonelli.tv/?p=1581 Immer wieder kommen Patienten in die Therapiestunden und sagen gleich nach der Begrüßung, kaum dass sie die Couch auch nur berühren: „Also, Herr Doktor, zuerst muss ich etwas beichten: Ich habe letzte Woche…“. Meist „beichten“ sie dann gebrochene Vorsätze, die sie in der vergangenen Therapiestunde gefasst hatten: der Student, der eigentlich in der Früh aufstehen […]

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Immer wieder kommen Patienten in die Therapiestunden und sagen gleich nach der Begrüßung, kaum dass sie die Couch auch nur berühren: „Also, Herr Doktor, zuerst muss ich etwas beichten: Ich habe letzte Woche…“. Meist „beichten“ sie dann gebrochene Vorsätze, die sie in der vergangenen Therapiestunde gefasst hatten: der Student, der eigentlich in der Früh aufstehen wollte, die Übergewichtige oder der Kaufsüchtige, die rückfällig wurden. Ja, ein überzeugt atheistischer Pornosüchtiger „beichtete“ mir kürzlich sogar, dass er seit der letzten Therapiestunde „gesündigt“ (sic!) habe. Auf meinen fragenden Blick antwortete er mit einem charmanten Schmunzeln, dass eben auch Atheisten sündigen können.

Jedenfalls: Wenn „es“ dann draußen ist, geht es ihnen allen besser. Die Stunde kann für sie danach zwanglos und ohne Krampf beginnen. Das Schlimmste ist nämlich bereits ausgespuckt, das schlechte Gewissen erleichtert. Damit haben sie auch Recht, denn wenn ein Patient versuchen würde, genau seinen schmerzhaften Punkt zu umgehen, wäre die Therapie sicherlich weniger effektiv. Bei Alkoholikern etwa erlebt man immer wieder, dass ein Rückfall phantasievoll kaschiert wird – und eben nicht „gebeichtet“ –, weil er im Bewusstsein umgedeutet wird. Dann ist Hilfe schwieriger. Das mutige Formulieren des eigenen Scheiterns verhindert die wehleidige Verdrängung. So steht die Selbstanklage gegenüber dem Therapeuten oft stellvertretend für den mutigen Prozess der Selbsterkenntnis.

Beichten ist ein normales menschliches Bedürfnis. Jeder psychisch gesunde Mensch trägt tief in sich eine Sehnsucht, seine Schandtaten bekennen zu können und sie durch Sühne wiedergutzumachen. Irritiert Sie das Wort „Schandtat“? Nun, das ist in unserem Zusammenhang eine äußerst aufschlussreiche Bezeichnung, die unsere Sprache anbietet: Eine Tat, die eine Schande ist, für die man sich also schämt. Die schmerzt. Und die unsere wehleidige Emotionalität deshalb am liebsten ins tiefste Unbewusste verdrängen würde. Wenn die selbstbetrügerischen Kräfte überwiegen, also Perfektionismus, Egozentrik und Narzissmus, dann gibt der Mensch dieser Versuchung nach. Wenn der Mensch aber diese emotionalen Kräfte in Schach halten kann, ist seine Vernunft frei und damit auch der Weg zur Selbsterkenntnis. Zumindest kurz, bis der Mechanismus der Selbstrechtfertigung wieder die Oberhand gewinnt und die Türe zuschlägt. Also, wenn Sie beichten wollen, dann schnell! Setzen Sie im Moment der Erkenntnis einen Schritt, den Sie später nicht zurücknehmen können.

In dem grandiosen Roman „Schuld und Sühne“ von Fjodor M. Dostojewskij wird Rodja Raskolnikow schwerst schuldig. Lehrreich an dessen Schicksal ist der langsam, schleichend einsetzende Selbstbetrug, der eine Tat, die gegen die eigenen Prinzipien verstößt, intellektuell vorbereitet und so erst möglich macht. Das ist das Problem: Das Böse wird gut genannt, die Laster Tugenden. Dieser Schritt ist eine prophylaktische Selbstrechtfertigung und bereitet die Schandtat vor. Wären die Juden nicht zu „Parasiten“, die selbstständig Denkenden nicht zu „Volksverrätern“ und die slawischen Ostvölker nicht zu „Untermenschen“ umgedeutet worden, dann hätten die Nationalsozialisten ihre Verbrechen wider die Menschlichkeit vor sich selbst und in ihrer eigenen Öffentlichkeit sehr schwer durchführen und rechtfertigen können.

Bei dieser Art von Selbstbeschwindelung wird die Moral umgeschrieben. Man kann es nicht nur so machen, man muss es sogar so machen. Je mehr schlechtes Gewissen dahinter steht, desto aggressiver, militanter und totalitärer wird die neue Scheinmoral eingefordert. Denn im Herzen des Menschen findet sich ein Gesetz, das der Mensch sich nicht selber gibt: das Gewissen. Der Selbstbetrug muss diese leise Stimme des Gewissens übertönen, überschreien, aggressiv zum Schweigen bringen.

Die Zehn Gebote finden sich deswegen mit bestimmten Nuancierungen letztlich in jeder Kultur, in jeder Religion, in jedem menschlichen Herzen. Es ist eine permanente Versuchung des Menschen, dieses innere Gesetz durch den jeweiligen Zeitgeist, etwa durch einen Kodex des jeweils vorgeschriebenen „politisch korrekten“ Denkens, Fühlens, Sprechens und des damit verbundenen gewünschten Benehmens umzuschreiben. Diese Tendenz ist wie der Turmbau zu Babel zum Scheitern verurteilt, weil man auf lange Sicht nicht verdrängen kann, was man im tiefen Inneren wahrnimmt.

Auf Dauer lässt sich das Gewissen durch individuellen oder kollektiven Selbstbetrug nicht abtöten, die Wahrheit lässt sich nicht dauerhaft ungestraft vergewaltigen, die Wirklichkeit lässt sich nicht ohne Schaden umdeuten. Irgendwann kommt ein Kind, wie im Märchen von Hans Christian Andersen, das unschuldig sagt, was vorher schon alle gesehen haben, aber nicht zu sagen wagten: Der Kaiser hat ja keine Kleider an! Irgendwann ist der Selbstbetrüger überführt, entlarvt – steht vor den Trümmern seines Selbstbetrugs.

Dostojewski hat in Raskolnikows Leben auch die Heilkraft des Bekenntnisses sehr lebensnah gezeichnet. Das schuldhafte Geschehen unausgesprochen in sich zu tragen, ist eine seelische Eiterbeule, die nicht heilen kann, sondern im persönlichen Leben immer weitere Kreise zieht. Mit dem Aussprechen des „Ich bin schuldig“ kann sich der Täter von der Tat distanzieren und damit auch lösen. Die Schuld muss in aller Brutalität benannt werden, ohne Beschönigungen und psychologische Schnörkel. Raskolnikows Freundin Sonja macht anfangs den Fehler so mancher Psychotherapeuten und mitunter auch Beichtväter, nach Rechtfertigungen zu suchen und die Tat zu verharmlosen. Doch dieses Bagatellisieren streut nur Salz in die Wunden, indem es den Täter erneut in seinen Selbstbetrug hinunterstößt.

Was Raskolnikow getan hat, um die Wunde, die die Schuld geschlagen hat, wieder zum Heilen zu bringen, war der Prozess der Reue – also Schuldbewusstsein zuzulassen und die Schuld nicht weiter zu verdrängen. Reue kann man psychodynamisch als Trauerarbeit über die begangenen Taten verstehen, die nach dem Muster ablaufen, die der Psychologe Jorgos Canacakis in seinem Buch „Ich sehe Deine Tränen“ beschrieben hat. Dieser Prozess ist ein innerer Konflikt, in dem Bauch und Herzensgewissen um die Vorherrschaft ringen. Erst das Schuldbekenntnis ist der Durchbruch, weil Rodja Raskolnikow durch einen irreversiblen Akt der Öffnung danach nicht mehr in die Verdrängung zurückkann. Der Abschluss der Reue ist die Sühne: eine (selbst- oder fremdauferlegte) Strafe, die man „verdient“ hat, die einen läutert und somit subjektiv von der Schuld befreit. Das reuevolle Schuldbekenntnis – oder eben die Beichte – ist Balsam auf die schuldgeplagte Seele, unabhängig vom religiösen Kontext. Das kann die Psychologie heute schon recht gut anerkennen.

Carl Gustav Jung, Sohn eines evangelischen Pastors, hat die Psychoanalyse gerne mit der katholischen Beichte verglichen und festgehalten: „Die Psychoanalyse ist eine logische Weiterentwicklung der Beichte.“ Und: „Meine Methode ist wie die Freuds auf der Praxis der Beichte aufgebaut.“ Von Jung wird übrigens erzählt, dass er einen Patienten beim Erstgespräch gefragt hätte, ob er katholisch sei. Als dieser bejahte, meinte der Psychiater angeblich: „Dann gehen Sie erst einmal beichten und dann kommen Sie wieder, wenn es dann noch nötig ist.“

Tatsächlich findet man zwischen Psychotherapie und Beichte durchaus Gemeinsamkeiten: Beide sind ritualisierte Gespräche. Bei beiden haben die Klienten einen subjektiven Leidensdruck: Man geht hin, weil man ein spezifisches Problem hat, das man loswerden möchte. In beiden Gesprächsformen besteht eine asymmetrische Beziehung, bei der ein Leidender und Hilfesuchender auf einen Experten trifft. Entgegen mancher ideologischer Phantasien ist beides nicht Austausch „auf gleicher Augenhöhe“. In beiden Fällen wird das persönliche Leben des Experten im Gespräch ausgeklammert, und bei beidem besteht ein klarer Auftrag von Seiten des Klienten. Beide kennen das Schuldbekenntnis, das an sich schon Heilkraft hat. Und bei beiden sollte bei professioneller Handhabung die Schuld nicht relativiert oder wegpsychologisiert werden.

Dennoch haben Psychotherapie und Beichte auch außerhalb der Sündenvergebung unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche „Aufträge“ des Klienten. Ein Psychotherapeut kümmert sich um die Befindlichkeit des Menschen. Seine Aufgabe ist es, den Patienten frei zu machen. Denn oft hat der Mensch seine Freiheit verloren, etwa durch Depressionen oder Ängste. Angst schränkt die persönliche Freiheit extrem ein. Der Therapeut muss dem Patienten somit seine Handlungsfähigkeit zurückgeben. Der Seelsorger hingegen ist dafür zuständig, dem Menschen zu zeigen, was er mit seiner Freiheit anfangen kann. Denn nur wenn der Mensch frei ist, kann er sich zwischen Gut und Böse entscheiden, kann er sich in Tugenden üben oder in der Sünde verfangen. Dem Seelsorger obliegt es auch, mit dem Betroffenen die moralische Dimension seines Handelns zu erörtern.

Der Beichtvater ist klassischerweise in der Rolle des guten Hirten, des barmherzigen Samariters, des Vaters des verlorenen Sohnes, des gerechten Richters. Der Psychotherapeut hingegen grenzt sich ab, ist außerhalb der Therapiestunden nicht zuständig und wertet, urteilt oder richtet nicht. Die Aufgabe des Priesters ist es, immer da zu sein (noch dazu unentgeltlich), während der Psychotherapeut so schnell wie möglich nicht mehr nötig sein sollte (er wird auch bezahlt). Therapeuten, die ihre Klienten – oft aus finanziellen Gründen – psychisch an sich binden oder von sich selbst abhängig machen, sind traurige Ausnahmeerscheinungen. Solche Abhängigkeit ist ein sicheres Zeichen für Kurpfuscherei. Das Weltbild und die Wertvorstellungen des Experten sind in der Beichte sehr wesentlich: Der Beichtende erwartet von ihm, dass er glaubt und sagt, was seine Kirche lehrt. Das Weltbild des Therapeuten sollte in der Therapie nicht relevant sein, sonst verkommt sie zur Manipulation. Die Sittlichkeit des berichteten Lebens ist in der Beichte relevant, in der Psychotherapie nicht, denn die Couch ist nach psychotherapeutischem Ethos eine moralfreie Zone. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Therapeut nicht selbst ethische Prinzipien hat, aber er hat nicht den Auftrag, diese dem Klienten zu vermitteln. Methodisch arbeitet die Beichte mit Reue, Bekennen und Absolution, während die Psychotherapie auf Selbsterkenntnis und die Erforschung der eigenen unbewussten psychischen Anteile setzt und Grundhaltungen aufdeckt, die zu Selbstbetrug und psychischen Konflikten beitragen.

Johannes B. Torello, zunächst Psychiater, später aus Überzeugung ausschließlich katholischer Priester und ein gefragter Beichtvater, stellte klar: „Das Schlimmste beim Beichtpriester ist die Entsakralisierung des eigenen Amtes durch Psychologisierung der Sünde: die Verharmlosung der Schuld bis zur Verflüchtigung.“ Tragisch sei eine Relativierung der Selbstanklage in der Beichte, denn dann fühlten sich die Pönitenten nicht ernst genommen. Die Beichte dürfe nicht eine billige Imitation und Karikatur einer Psychotherapiesituation sein, deshalb sei dem Beichtstuhl gegenüber dem Aussprachezimmer der Vorzug zu geben. Auch garantiere das Beichtgitter den Schutz von Priester und Beichtkind in dieser maximal intimen Situation. Nichts ist bekanntlich so intim wie die Schuld.

Die Psychotherapie erarbeitet die Einsicht in die eigene Schuld, indem sie Verdrängungen freilegt, Fremdbeschuldigungen aufhebt und die Willensfreiheit stärkt. So kann sie Reue bewirken und ebnet möglicherweise den Weg zur Beichte. Die Aufgabe der Religion hingegen ist die moralische Beurteilung der Schuld. Die Aufgabe des Beichtrituals schließlich ist die Befreiung von der Schuld – denn ein Psychiater kann definitiv keine Sünden vergeben! Umgekehrt kann der Beichtvater die Sünden nicht vergeben, wenn der Pönitent seine Fehler durch Verdrängung nicht sieht. Insofern können sich Psychotherapie und Beichte gut ergänzen.

Religion ist aus psychologischer Sicht in der Aufarbeitung der Schuld sicherlich hilfreich. Die religiöse Beichte ist der Ort, der das Aussprechen der Schuld ritualisiert möglich macht und göttliche Vergebung gewährt. Umkehr und Neubeginn werden dadurch erleichtert, hartnäckige antisoziale Verhaltenschemata können so vom Klienten durchbrochen werden. Der Mensch wird durch Religion dann besser, wenn er sich in ihr Wertesystem einordnet, statt es nach seinen antisozialen Neigungen und moralischen Defekten umzuschreiben. Dadurch wird er mehr Mensch, wächst über sich hinaus, weicht seine störenden Verhaltensmuster auf. Religiöse Gebote harmonieren im Idealfall mit dem Gewissen und bewahren durch die unbestechliche Formulierung vor moralischen Irrwegen, denen der Mensch in seiner Schwäche folgen will. Diese Irrwege haben oft selbst ungesunde psychische Folgen. Religiöse Gebote schützen aber auch vor eigenen seelischen Abgründen mit entsprechendem Selbstbetrug, wie das Beispiel der Pädophilie anschaulich klarstellt. Dieser doppelte Schutz wirkt dann nicht, wenn man sich der Religion nur heuchlerisch bedient, statt sich ihr unterzuordnen.

Der Artikel wurde in der deutschen Tagespost veröffentlicht.

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Die Psychologie der Beichte https://seite.bonelli.tv/die-psychologie-der-beichte/ Sat, 07 Jun 2014 09:36:40 +0000 http://www.bonelli.tv/?p=1164 Immer wieder kommen Patienten in die Therapiestunden und sagen gleich nach der Begrüßung, kaum dass sie die Couch auch nur berühren: „Also, Herr Doktor, zuerst muss ich etwas beichten: Ich habe letzte Woche…“. Meist „beichten“ sie dann gebrochene Vorsätze, die sie in der vergangenen Therapiestunde gefasst hatten: der Student, der eigentlich in der Früh aufstehen […]

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Immer wieder kommen Patienten in die Therapiestunden und sagen gleich nach der Begrüßung, kaum dass sie die Couch auch nur berühren: „Also, Herr Doktor, zuerst muss ich etwas beichten: Ich habe letzte Woche…“. Meist „beichten“ sie dann gebrochene Vorsätze, die sie in der vergangenen Therapiestunde gefasst hatten: der Student, der eigentlich in der Früh aufstehen wollte, die Übergewichtige oder der Kaufsüchtige, die rückfällig wurden. Ja, ein überzeugt atheistischer Pornosüchtiger „beichtete“ mir kürzlich sogar, dass er seit der letzten Therapiestunde „gesündigt“ (sic!) habe. Auf meinen fragenden Blick antwortete er mit einem charmanten Schmunzeln, dass eben auch Atheisten sündigen können. Jedenfalls: Wenn „es“ dann draußen ist, geht es ihnen allen besser. Die Stunde kann für sie danach zwanglos und ohne Krampf beginnen. Das Schlimmste ist nämlich bereits ausgespuckt, das schlechte Gewissen erleichtert. Damit haben sie auch Recht, denn wenn ein Patient versuchen würde, genau seinen schmerzhaften Punkt zu umgehen, wäre die Therapie sicherlich weniger effektiv. Bei Alkoholikern etwa erlebt man immer wieder, dass ein Rückfall phantasievoll kaschiert wird – und eben nicht „gebeichtet“ –, weil er im Bewusstsein umgedeutet wird. Dann ist Hilfe schwieriger. Das mutige Formulieren des eigenen Scheiterns verhindert die wehleidige Verdrängung. So steht die Selbstanklage gegenüber dem Therapeuten oft stellvertretend für den mutigen Prozess der Selbsterkenntnis.

Beichten ist ein normales menschliches Bedürfnis. Jeder psychisch gesunde Mensch trägt tief in sich eine Sehnsucht, seine Schandtaten bekennen zu können und sie durch Sühne wiedergutzumachen. Irritiert Sie das Wort „Schandtat“? Nun, das ist in unserem Zusammenhang eine äußerst aufschlussreiche Bezeichnung, die unsere Sprache anbietet: Eine Tat, die eine Schande ist, für die man sich also schämt. Die schmerzt. Und die unsere wehleidige Emotionalität deshalb am liebsten ins tiefste Unbewusste verdrängen würde. Wenn die selbstbetrügerischen Kräfte überwiegen, also Perfektionismus, Egozentrik und Narzissmus, dann gibt der Mensch dieser Versuchung nach. Wenn der Mensch aber diese emotionalen Kräfte in Schach halten kann, ist seine Vernunft frei und damit auch der Weg zur Selbsterkenntnis. Zumindest kurz, bis der Mechanismus der Selbstrechtfertigung wieder die Oberhand gewinnt und die Türe zuschlägt. Also, wenn Sie beichten wollen, dann schnell! Setzen Sie im Moment der Erkenntnis einen Schritt, den Sie später nicht zurücknehmen können.

In dem grandiosen Roman „Schuld und Sühne“ von Fjodor M. Dostojewskij wird Rodja Raskolnikow schwerst schuldig. Lehrreich an dessen Schicksal ist der langsam, schleichend einsetzende Selbstbetrug, der eine Tat, die gegen die eigenen Prinzipien verstößt, intellektuell vorbereitet und so erst möglich macht. Das ist das Problem: Das Böse wird gut genannt, die Laster Tugenden. Dieser Schritt ist eine prophylaktische Selbstrechtfertigung und bereitet die Schandtat vor. Wären die Juden nicht zu „Parasiten“, die selbstständig Denkenden nicht zu „Volksverrätern“ und die slawischen Ostvölker nicht zu „Untermenschen“ umgedeutet worden, dann hätten die Nationalsozialisten ihre Verbrechen wider die Menschlichkeit vor sich selbst und in ihrer eigenen Öffentlichkeit sehr schwer durchführen und rechtfertigen können.

Bei dieser Art von Selbstbeschwindelung wird die Moral umgeschrieben. Man kann es nicht nur so machen, man muss es sogar so machen. Je mehr schlechtes Gewissen dahintersteht, desto aggressiver, militanter und totalitärer wird die neue Scheinmoral eingefordert. Denn im Herzen des Menschen findet sich ein Gesetz, das der Mensch sich nicht selber gibt: das Gewissen. Der Selbstbetrug muss diese leise Stimme des Gewissens übertönen, überschreien, aggressiv zum Schweigen bringen.

Die Zehn Gebote finden sich deswegen mit bestimmten Nuancierungen letztlich in jeder Kultur, in jeder Religion, in jedem menschlichen Herzen. Es ist eine permanente Versuchung des Menschen, dieses innere Gesetz durch den jeweiligen Zeitgeist, etwa durch einen Kodex des jeweils vorgeschriebenen „politisch korrekten“ Denkens, Fühlens, Sprechens und des damit verbundenen gewünschten Benehmens umzuschreiben. Diese Tendenz ist wie der Turmbau zu Babel zum Scheitern verurteilt, weil man auf lange Sicht nicht verdrängen kann, was man im tiefen Inneren wahrnimmt. Auf Dauer lässt sich das Gewissen durch individuellen oder kollektiven Selbstbetrug nicht abtöten, die Wahrheit lässt sich nicht dauerhaft ungestraft vergewaltigen, die Wirklichkeit lässt sich nicht ohne Schaden umdeuten. Irgendwann kommt ein Kind, wie im Märchen von Hans Christian Andersen, das unschuldig sagt, was vorher schon alle gesehen haben, aber nicht zu sagen wagten: Der Kaiser hat ja keine Kleider an! Irgendwann ist der Selbstbetrüger überführt, entlarvt – steht vor den Trümmern seines Selbstbetrugs.

Dostojewski hat in Raskolnikows Leben auch die Heilkraft des Bekenntnisses sehr lebensnah gezeichnet. Das schuldhafte Geschehen unausgesprochen in sich zu tragen ist eine seelische Eiterbeule, die nicht heilen kann, sondern im persönlichen Leben immer weitere Kreise zieht. Mit dem Aussprechen des „Ich bin schuldig“ kann sich der Täter von der Tat distanzieren und damit auch lösen. Die Schuld muss in aller Brutalität benannt werden, ohne Beschönigungen und psychologische Schnörkel. Raskolnikows Freundin Sonja macht anfangs den Fehler so mancher Psychotherapeuten und mitunter auch Beichtväter, nach Rechtfertigungen zu suchen und die Tat zu verharmlosen. Doch dieses Bagatellisieren streut nur Salz in die Wunden, indem es den Täter erneut in seinen Selbstbetrug hinunterstößt.

Was Raskolnikow getan hat, um die Wunde, die die Schuld geschlagen hat, wieder zum Heilen zu bringen, war der Prozess der Reue – also Schuldbewusstsein zuzulassen und die Schuld nicht weiter zu verdrängen. Reue kann man psychodynamisch als Trauerarbeit über die begangenen Taten verstehen, die nach dem Muster ablaufen, die der Psychologe Jorgos Canacakis in seinem Buch „Ich sehe Deine Tränen“ beschrieben hat.

Dieser Prozess ist ein innerer Konflikt, in dem Bauch und Herzensgewissen um die Vorherrschaft ringen. Erst das Schuldbekenntnis ist der Durchbruch, weil Rodja Raskolnikow durch einen irreversiblen Akt der Öffnung danach nicht mehr in die Verdrängung zurück kann. Der Abschluss der Reue ist die Sühne: eine (selbst- oder fremdauferlegte) Strafe, die man „verdient“ hat, die einen läutert und somit subjektiv von der Schuld befreit. Das reuevolle Schuldbekenntnis – oder eben die Beichte – ist Balsam auf die schuldgeplagte Seele, unabhängig vom religiösen Kontext. Das kann die Psychologie heute schon recht gut anerkennen.

Carl Gustav Jung, Sohn eines evangelischen Pastors, hat die Psychoanalyse gerne mit der katholischen Beichte verglichen und festgehalten: „Die Psychoanalyse ist eine logische Weiterentwicklung der Beichte.“ Und: „Meine Methode ist wie die Freuds auf der Praxis der Beichte aufgebaut.“ Von Jung wird übrigens erzählt, dass er einen Patienten beim Erstgespräch gefragt hätte, ob er katholisch sei. Als dieser bejahte, meinte der Psychiater angeblich: „Dann gehen Sie erst einmal beichten und dann kommen Sie wieder, wenn es dann noch nötig ist.“

Tatsächlich findet man zwischen Psychotherapie und Beichte durchaus Gemeinsamkeiten: Beide sind ritualisierte Gespräche. Bei beiden haben die Klienten einen subjektiven Leidensdruck: Man geht hin, weil man ein spezifisches Problem hat, das man loswerden möchte. In beiden Gesprächsformen besteht eine asymmetrische Beziehung, bei der ein Leidender und Hilfesuchender auf einen Experten trifft. Entgegen mancher ideologischer Phantasien ist beides nicht Austausch „auf gleicher Augenhöhe“. In beiden Fällen wird das persönliche Leben des Experten im Gespräch ausgeklammert, und bei beidem besteht ein klarer Auftrag von Seiten des Klienten. Beide kennen das Schuldbekenntnis, das an sich schon Heilkraft hat. Und bei beiden sollte bei professioneller Handhabung die Schuld nicht relativiert oder wegpsychologisiert werden. Dennoch haben Psychotherapie und Beichte auch außerhalb der Sündenvergebung unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche „Aufträge“ des Klienten. Ein Psychotherapeut kümmert sich um die Befindlichkeit des Menschen. Seine Aufgabe ist es, den Patienten frei zu machen. Denn oft hat der Mensch seine Freiheit verloren, etwa durch Depressionen oder Ängste. Angst schränkt die persönliche Freiheit extrem ein. Der Therapeut muss dem Patienten somit seine Handlungsfähigkeit zurückgeben. Der Seelsorger hingegen ist dafür zuständig, dem Menschen zu zeigen, was er mit seiner Freiheit anfangen kann. Denn nur wenn der Mensch frei ist, kann er sich zwischen Gut und Böse entscheiden, kann er sich in Tugenden üben oder in der Sünde verfangen. Dem Seelsorger obliegt es auch, mit dem Betroffenen die moralische Dimension seines Handelns zu erörtern.

Der Beichtvater ist klassischerweise in der Rolle des guten Hirten, des barmherzigen Samariters, des Vaters des verlorenen Sohnes, des gerechten Richters. Der Psychotherapeut hingegen grenzt sich ab, ist außerhalb der Therapiestunden nicht zuständig und wertet, urteilt oder richtet nicht. Die Aufgabe des Priesters ist es, immer da zu sein (noch dazu unentgeltlich), während der Psychotherapeut so schnell wie möglich nicht mehr nötig sein sollte (er wird auch bezahlt). Therapeuten, die ihre Klienten – oft aus finanziellen Gründen – psychisch an sich binden oder von sich selbst abhängig machen, sind traurige Ausnahmeerscheinungen. Solche Abhängigkeit ist ein sicheres Zeichen für Kurpfuscherei. Das Weltbild und die Wertvorstellungen des Experten sind in der Beichte sehr wesentlich: Der Beichtende erwartet von ihm, dass er glaubt und sagt, was seine Kirche lehrt. Das Weltbild des Therapeuten sollte in der Therapie nicht relevant sein, sonst verkommt sie zur Manipulation. Die Sittlichkeit des berichteten Lebens ist in der Beichte relevant, in der Psychotherapie nicht, denn die Couch ist nach psychotherapeutischem Ethos eine moralfreie Zone. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Therapeut nicht selbst ethische Prinzipien hat, aber er hat nicht den Auftrag, diese dem Klienten zu vermitteln. Methodisch arbeitet die Beichte mit Reue, Bekennen und Absolution, während die Psychotherapie auf Selbsterkenntnis und die Erforschung der eigenen unbewussten psychischen Anteile setzt und Grundhaltungen aufdeckt, die zu Selbstbetrug und psychischen Konflikten beitragen.

Johannes B. Torello, zunächst Psychiater, später aus Überzeugung ausschließlich katholischer Priester und ein gefragter Beichtvater, stellte klar: „Das Schlimmste beim Beichtpriester ist die Entsakralisierung des eigenen Amtes durch Psychologisierung der Sünde: die Verharmlosung der Schuld bis zur Verflüchtigung.“ Tragisch sei eine Relativierung der Selbstanklage in der Beichte, denn dann fühlten sich die Pönitenten nicht ernst genommen. Die Beichte dürfe nicht eine billige Imitation und Karikatur einer Psychotherapiesituation sein, deshalb sei dem Beichtstuhl gegenüber dem Aussprachezimmer der Vorzug zu geben. Auch garantiere das Beichtgitter den Schutz von Priester und Beichtkind in dieser maximal intimen Situation. Nichts ist bekanntlich so intim wie die Schuld.

Die Psychotherapie erarbeitet die Einsicht in die eigene Schuld, indem sie Verdrängungen freilegt, Fremdbeschuldigungen aufhebt und die Willensfreiheit stärkt. So kann sie Reue bewirken und ebnet möglicherweise den Weg zur Beichte. Die Aufgabe der Religion hingegen ist die moralische Beurteilung der Schuld. Die Aufgabe des Beichtrituals schließlich ist die Befreiung von der Schuld – denn ein Psychiater kann definitiv keine Sünden vergeben! Umgekehrt kann der Beichtvater die Sünden nicht vergeben, wenn der Pönitent seine Fehler durch Verdrängung nicht sieht. Insofern können sich Psychotherapie und Beichte gut ergänzen.

Religion ist aus psychologischer Sicht in der Aufarbeitung der Schuld sicherlich hilfreich. Die religiöse Beichte ist der Ort, der das Aussprechen der Schuld ritualisiert möglich macht und göttliche Vergebung gewährt. Umkehr und Neubeginn werden dadurch erleichtert, hartnäckige antisoziale Verhaltensschemata können so vom Klienten durchbrochen werden. Der Mensch wird durch Religion dann besser, wenn er sich in ihr Wertesystem einordnet, statt es nach seinen antisozialen Neigungen und moralischen Defekten umzuschreiben. Dadurch wird er mehr Mensch, wächst über sich hinaus, weicht seine störenden Verhaltensmuster auf. Religiöse Gebote harmonieren im Idealfall mit dem Gewissen und bewahren durch die unbestechliche Formulierung vor moralischen Irrwegen, denen der Mensch in seiner Schwäche folgen will. Diese Irrwege haben oft selbst ungesunde psychische Folgen. Religiöse Gebote schützen aber auch vor eigenen seelischen Abgründen mit entsprechendem Selbstbetrug, wie das Beispiel der Pädophilie anschaulich klarstellt. Dieser doppelte Schutz wirkt dann nicht, wenn man sich der Religion nur heuchlerisch bedient, statt sich ihr unterzuordnen.

Der Artikel erschien in der deutschen Tagespost.

 

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Therapie und Beichte nicht gegeneinander ausspielen https://seite.bonelli.tv/therapie-und-beichte-nicht-gegeneinander-ausspielen/ Sat, 29 May 2004 16:53:28 +0000 http://www.bonelli.tv/?p=470 VISION 2000: Was behandelt der Psychiater eigentlich? Raphael Bonelli: In der Psychiatrie behandeln wir viele Arten von psychischen Störungen, die ihre Ursachen allerdings nicht immer im psychischen Bereich haben. Die Hauptgruppen sind Depressionen und Schizophrenien. Beide können durch einen Gehirntumor oder Störungen bei den Botenstoffen des Gehirns hervorgerufen werden. Wie alle wissen, können Depressionen auch […]

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VISION 2000: Was behandelt der Psychiater eigentlich?

Raphael Bonelli: In der Psychiatrie behandeln wir viele Arten von psychischen Störungen, die ihre Ursachen allerdings nicht immer im psychischen Bereich haben. Die Hauptgruppen sind Depressionen und Schizophrenien. Beide können durch einen Gehirntumor oder Störungen bei den Botenstoffen des Gehirns hervorgerufen werden. Wie alle wissen, können Depressionen auch durch äußere Ursachen verursacht sein, etwa durch den Tod eines geliebten Menschen. Wir behandeln aber auch viele andere Störungen: neurotische, Sexual-, Persönlichkeits-, Eß- und Schlafstörungen.

Was ist in all diesen Fällen krank – die Seele?

Bonelli: Rund um dieses Thema gibt es eine große philosophische Diskussion. Das Konzept, das mir am besten gefällt: Es gibt die Seele, den Körper, die Psyche. Die Psyche vermittelt zwischen körperlichen und seelischen Zuständen. Sie ist sehr von der Seele, dem Willen etwa abhängig. Sie wird aber auch vom körperlichen Geschehen beeinflusst. Wer etwa schlecht geschlafen hat, dem geht es psychisch schlechter. Auch Veränderungen im Gehirn beeinflussen die Psyche. Ein Beispiel: Wird ein bestimmter Kern im Gehirn ausgeschaltet, so reagiert darauf fast jeder Mensch aggressiv. Stört man andere Zentren im Gehirn, so kommt es zur Enthemmung bei dem Betroffenen. In diesen Fällen dürfte zwar die Seele nicht angegriffen sein, wohl aber ist die Psyche verändert. Bei der Seele geht es um das Gut- oder Nicht-Gutsein. Was die Psyche anbelangt, geht es um Fragen wie: Geht es mir gut? Kann ich denken? Körper, Seele, Psyche – das ist für mich ein Dreiklang.

Sind psychische Leiden Erscheinungen, die mehr personenspezifisch sind, als etwa Erkrankungen des Magens oder der Leber eines Menschen?

Bonelli: Das trifft unbedingt zu. Die Psyche ist dem Menschen sehr nah – was nicht heißt, daß nicht auch die Leber sehr relevant ist. Leberstörungen können massive psychische Erscheinungen auslösen. Aber Probleme in der Psychiatrie sind dem Menschen stets sehr nah, sind oft dramatisch. Deswegen gibt es dem Psychiater gegenüber ein ganz anderes Verhalten als gegenüber jedem anderen Arzt. Oft kommt es dem Psychiater gegenüber zu massiven Ablehnungen, zu Mißtrauen – aber auch zu sehr vertrauensvollem Verhalten. In der Psychiatrie hören wir von unseren Patienten oft Probleme, die nicht einmal der Partner kennt.

Wohin wendet sich jemand, der psychisch leidet?

Bonelli: Prinzipiell werden psychisch Kranke vom Psychiater gesehen und dann bei entsprechender Indikation einem Psychotherapeuten zugewiesen. Diese müssen nicht unbedingt Ärzte sein. Sie haben eine bestimmte Ausbildung gemacht. Um einen Psychotherapeuten richtig einordnen zu können, ist es wichtig zu wissen, aus welchem Quellenberuf er kommt. Wenn jemand von Beruf Lehrer ist und dann als Zusatzqualifikation Psychotherapie gemacht hat, dann verfügt er über eine andere Kompetenz, als wenn er von Beruf Psychiater ist, der sich zusätzlich zum Psychotherapeuten ausbilden hat lassen.

Der Psychiater ist also die erste Anlaufstation für einen psychisch Kranken?

Bonelli: Richtig. Das ist auch wichtig. Es gibt nämlich in der Psychiatrie Störungen, die durch Psychotherapie allein nicht therapierbar sind. Manchmal werden sie durch eine solche Therapie sogar verschlimmert – und zwar in den Fällen, bei denen das Reden schadet. Das gilt etwa für eine akute Psychose, also für eine Schizophrenie. Das Gros der Fälle in der Psychotherapie sind allerdings Menschen, die leichter krank sind, die ein Lebensproblem haben, deren Probleme im neurotischen Bereich angesiedelt sind…

Was heißt neurotischer Bereich?

Bonelli: Das Konzept der Neurose wurde von jedem Lehrer der Psychiatrie anders definiert. Das geht soweit, daß man den Begriff der Neurose fast abgeschafft hat. Heute arbeitet zwar jeder mit dem Begriff Neurose, aber niemand sagt, was das ist.

Was verstehen Sie darunter?

Bonelli: Neurose ist salopp formuliert ein Knopf der Lebensauffassung. Jemand verarbeitet das, was er erlebt hat, schlecht. Er kreist immer wieder um dasselbe Problem. In solchen Fällen kommt es dazu, daß Menschen durchschnittliche Probleme höchst dramatisch interpretieren und nicht von ihnen loskommen. Ein Beispiel: Ein Mensch kommt nicht darüber hinweg, daß ihn der Vater nicht gut behandelt hat, ohne zu bedenken, daß alle Eltern Fehler machen. Ein halbwegs normal gebauter Mensch würde sagen: Ja, mein Vater hat in dieser und jener Situation nicht richtig gehandelt – aber wer macht keine Fehler? Der Neurotiker hingegen sagt: Damals hat mir mein Vater gesagt, ich sei böse, und deswegen geht es mir jetzt schlecht…

Wäre das ein Erscheinungsbild, das nicht unbedingt ein Arzt behandeln muß?

Bonelli: Nein, das könnte unter Umständen auch jemand anderer, aber meistens ist die Kombination mit einem Arzt notwendig. Denn bei den meisten Störungen wird auch eine medikamentöse Behandlung notwendig sein. Ausnahmen sind vielleicht Partnerschafts- und Eheprobleme. Auf diesem Gebiet können Mediatoren, Lebensberater, die gar keine psychotherapeutische Ausbildung im engeren Sinn haben, gut wirken. Bei Eheproblemen ist es wichtig, daß ein objektiver Dritter hinzugezogen wird, der schlichtet.

Wann sollte jemand zum Psychiater gehen? Welche Symptome sind ausreichend? Wann kommt man nicht mehr selbst zurecht? Gibt es da überhaupt Kriterien?

Bonelli: Zunächst wäre zu sagen, daß einige Patienten, die dringend zum Psychiater gehen müßten, mit Sicherheit nie gehen würden – jedenfalls nicht freiwillig -, weil sie das ablehnen. Sie sagen, ihnen fehle nichts. Da leidet hauptsächlich die Umwelt. Die Indikation für den Besuch des Psychiaters ist der Leidensdruck – entweder des Betroffenen selber oder seiner Umgebung. Es gibt Krankheiten, bei denen sich der Betroffene wohlfühlt, alle anderen rundherum aber leiden.

Können Sie da ein Beispiel nennen?

Bonelli: Ja, etwa die Manie. Das ist eine Antriebssteigerung, bei der sich der Patient großartig fühlt, sich aber in fürchterliche Abenteuer wagt oder auf jede sexuelle Beziehung einläßt, in vielfältiger Weise vollkommen enthemmt ist. Erst wenn die Manie zu Ende ist, merkt er, was er alles angestellt hat.

Kann der Psychotherapeut wirklich heilen oder schafft er es vor allem, Symptome erträglich zu gestalten?

Bonelli: In der Psychotherapie passiert es sehr selten, daß die Menschen nie wieder Probleme haben. Was man in der Therapie versucht, ist, diesen „Knopf der Lebensaufassung“ zu lösen. Wie gut das gelingt, hängt davon ab, wie lange das Problem schon besteht. Wer sich ein Leben lang benachteiligt gefühlt hat und unzufrieden war, den kann man nicht plötzlich zu einem frohen, euphorischen Menschen machen. Hingegen kann es in der Psychotherapie eines plötzlichen Partnerverlustes sehr rasch gelingen, den Patienten zu stabilisieren. Allerdings könnte derselbe Erfolg durch ein Gespräch mit einem guten Freund erreicht werden. Meistens jedenfalls ist es so, daß der Therapeut die Symptome erträglich macht.

Stellt sich bei Christen nicht die Frage, ob sie mit ihren Problemen nicht lieber zum Priester als zum Psychotherapeuten gehen sollten?

Bonelli: Das kommt darauf an. Ein Psychotherapeut kann nicht Schuld erlassen. Die Psychotherapie ersetzt nicht die Beichte. Es gibt aber viele Zustände, bei denen eine Beichte nicht ausreichend hilft. Ihre Wirkung liegt nicht im psychischen Bereich. Daher ist es oft notwendig, daß auch gläubige Christen den Psychiater aufsuchen.

Bei welcher Konstellation sollte ein Priester im Beichtstuhl jemanden einladen, zusätzlich eine Therapie in Anspruch zu nehmen?

Bonelli: Relativ häufig wird das im Falle von Depressionen vorkommen. Depression wird von gläubigen Menschen oft als Trockenheit im Gebet oder als Prüfung interpretiert. Man glaubt dann, man sei in der dunklen Nacht, von der Johannes vom Kreuz spricht – und da müsse man eben durchhalten. Dann kommt es zu verbissenen Willensanstrengungen aus Angst vor dem Psychiater, von dem man meint, er werde dann in der Seele herummanipulieren und den Glauben gefährden. Nach meiner Beobachtung tun sich religiöse Menschen vor allem auf diesem großen Gebiet der Depressionen besonders schwer, sich helfen zu lassen. Sie haben das Mißverständnis, daß ihre Traurigkeit ihre eigene Schuld sei – was durchaus auch der Fall sein kann, aber nicht sein muß.

Die Psychiatrie hat eben bei vielen ein schlechtes Image. Irgendwie hat man Angst vor dem Psychiater. Ist das nicht zum Teil auch berechtigt?

Bonelli: Die Angst ist teilweise berechtigt, teilweise anachronistisch.

Inwiefern berechtigt?

Bonelli: Insofern es viele Therapeuten gibt, die dem christlichen Menschenbild deutlich widersprechen und Ratschläge geben, die das religiöse Leben sehr verletzen können. Denn wenn wir unsere Psyche öffnen, öffnen wir uns ganz. Beim Psychiater, beim Psychotherapeuten sind wir extrem verletzlich. Wenn dieser salopp über unseren Glauben herzieht, kann das sehr verletzen und den Glauben gefährden. Insofern ist die Skepsis berechtigt.

Was aber ist dann anachronistisch?

Bonelli: Die Angst vor Psychopharmaka. Sehr viele Krankheiten kommen aus einer Störung des Stoffwechsels im Gehirn, wie erwähnt die Depression und die Schizophrenie. Da ist das Einnehmen von Psychopharmaka moralisch absolut unbedenklich. Ideologisch gehen Christen da oft eine Koalition mit der Grünbewegung ein, wo es heißt, nur Natur sei gesund – ein unberechtigtes Vorurteil. Man muß nur beobachten, wie schnell viele Depressionen verschwinden und wie gut sich eine Schizophrenie bessern kann, wenn man die Medikamente regelmäßig einnimmt! Mir fällt jedenfalls auf, daß es in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen gibt.

Gibt es andere Phänomene, die beim Beichten erkannt werden, dort aber nicht restlos gelöst werden können?

Bonelli: Ja, der religiöse Wahn und die falschen mystischen Erfahrungen. Da geht es um Menschen, die meinen, Eingebungen von Heiligen oder Engeln zu haben, was sich bei näherer Beschäftigung als Krankheit herausstellen kann.

Müßte nicht der Priester in diesem Fall die Unterscheidung treffen und erst, wenn er zum Ergebnis kommt, daß es keine echten Erscheinungen sind, den Psychiater einschalten?

Bonelli: In der Praxis machen wir das oft zusammen. Vorausgesetzt der Betroffene ist einverstanden, überlegen Priester und Arzt, wie das Geschehen zu bewerten ist. Ich habe einen Fall vor Augen, in dem ein tiefreligiöser Mensch von solchen Erfahrungen berichtet hat. Der Beichtvater hatte diesbezüglich Zweifel und hat die betreffende Person zu mir geschickt. Wir haben dann sehr gut zusammengespielt. Und zu guter Letzt wurde der Patient auf ein Medikament eingestellt und die Krankheitssymptome sind verschwunden.

Was sollte ein Christ prüfen, bevor er sich einem Therapeuten anvertraut?

Bonelli: Das Menschenbild des Psychiaters. Zwar wird sehr oft von wertfreier Therapie gesprochen, aber das ist eine Illusion. Ich habe sehr oft beobachtet, daß das eigene Menschenbild bei sogenannten wertfreien Psychotherapeuten sehr massiv zum Tragen kommt, wenn sie meinen, jemand habe zu enge religiöse Bindungen. Ich würde keinem religiösen Menschen raten, zu einem nicht religiösen Psychotherapeuten zu gehen.

Haben Sie Patienten schon die Krankensalbung empfohlen?

Bonelli: Ich arbeite hier eng mit der Krankenhausseelsorge zusammen. Der Kaplan im Haus spendet immer wieder psychisch kranken Patienten die Krankensalbung. Das wird sehr dankbar angenommen. Eine Heilung habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber es ist sicher sehr hilfreich. Ich ziehe bei Therapien von religiösen Menschen oft einen Priester hinzu, der eine Beichte abnimmt, die Krankensalbung spendet, zusätzliche Gespräche führt und spezifische Fragen der Schuld klärt.

Sie haben bei einem Vortrag von Psychologisierung der Schuld in der Psychotherapie gesprochen. Was meinten Sie damit?

Bonelli: Leider ist es sehr oft so, daß die Psychotherapie Schuld nicht als Schuld akzeptiert. Soziale Verstrickungen, Unfähigkeit werden als Auslöser für Verhalten angesehen. In manchen Fällen mag es übrigens hilfreich sein, diese Aspekte zu sehen. Wer aber verabsolutiert, daß es keine Schuld mehr gibt und alles nur mit Umständen erklärt, der schafft die Verantwortung ab. Damit fühlen sich die Patienten aber gar nicht so wohl. Wer nur Opfer der Umstände ist, kann nichts an seiner Situation ändern.

Sie kritisierten weiters, daß der Stellenwert der Sexualität falsch gesehen wird.

Bonelli: Viele haben die Sichtweise von Sigmund Freud übernommen: Wenn man die Sexualität nicht ungehemmt auslebt, komme sie anderswo, etwa durch eine Neurose, sexuelle Störungen oder sonstige Probleme durch. Das ist ein großes Mißverständnis, das in der Praxis zu dramatischen Ratschlägen führen kann, nämlich man müsse alles ausleben. Aus meiner Sicht ist das ein großer Irrtum, moralisch bedenklich. Es tut den Menschen nicht gut. Man kann nämlich die Sexualität exponentiell steigern, wenn man sie stimuliert. Man kann sie aber auch beherrschen. Sie ist prinzipiell verzichtbar und hat einen anderen Stellenwert als der Nahrungstrieb.

Sie warnten vor der Überbewertung der Gefühle, die heute vorherrscht. Könnten Sie diesen Punkt etwas erläutern?

Bonelli: Dieser Aspekt der Psychotherapie erscheint mir besonders wichtig. Wo nur das Gefühl zählt, gibt es keine objektiven Werte mehr, keine festen Bindungen. Heute richtet man sich in der Psychotherapie vielfach nur mehr nach der Beantwortung der Frage: Wie geht es mir damit? Was spüre ich? Wenn man das lange genug praktiziert, glaubt man an seine Gefühle, wie andere an Gott glauben. Das kann dramatische Konsequenzen haben. Dann spürt eine Frau keine Liebe mehr für ihren Mann, aber Zuneigung für einen anderen und zieht zu diesem. Für uns Christen ist das offenkundig ein Irrweg, denn wir wissen: Die Treue stabilisiert die Ehe und die Liebe kann auf dieser Grundlage bald wieder wachsen. Sind die Gefühle aber alles, dann ist die Trennung programmiert. Was aber, wenn zwei Jahre später das Gefühl sich wieder ändert?

Der Beitrag Therapie und Beichte nicht gegeneinander ausspielen erschien zuerst auf Raphael M. Bonelli.

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